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War der deutsch-russische Vertrag von 1229 das erste Dokument in mittelniederdeutscher Sprache? //...

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N iederdeutsches J ahrbuch 136 (2013) War der deutsch-russische Vertrag von 1229 das erste Dokument in mittelniederdeutscher Sprache?* Von Pavel Petrukhin, Moskau (RU) 1 Der Vertrag von 1229 garantierte friedliche Beziehungen zwischen dem Fürs- tentum Smolensk und dem Deutschen Ritterorden, der an der Ostküste der Ostsee Fuß gefasst hatte, und setzte gleichzeitig die Regeln für den Handel zwischen den deutschen und den russischen (Smolensker) Kaufleuten fest. In der russischen Ge- schichtsschreibung ist er als der Vertrag des Smolensker Fürsten Mstislav Davydovic mit Riga und dem Gotischen Ufer (Gotland) bekannt. Franklin (2002: 166) charakte- risiert die Bedeutung des Vertrages folgendermaßen: In 1229 Pantelei and the priest Ieremei, envoys of Prince Mstislav Davidovich of Smolensk, travelled to Riga and Gotland to negotiate a formal agreement on terms and conditions of trade. The result was a detailed treaty which served as the stable foundation for mercantile relations, reaffirmed by successive princes at least until the end of the Century. The 1229 treaty is thus more than a single act, a single document, an event; it was accorded a kind of constitutional au- thority, acknowledged and maintained for generations. It is also by far the best attested document of its kind of its age: five thirteenth-century Slavonic copies survive (all in the archives of Riga), plus a sixth from the fourteenth Century. Laut Goetz (1916: 304) ist der Vertrag „bei dem Reichtum seines Inhalts einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste aller deutsch-russischen Handelsverträge des Mittelalters“. Nur der russische Text des Vertrages von Mstislav Davydovic (im Folgenden als Smolensker Vertrag bezeichnet) ist erhalten geblieben. Er hat zwei Fassungen: die „gotländische“ und die „Rigaer“* 1, welche jeweils in drei Abschriften - A, B, C bzw. * Die Forschungen wurden vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaft- lichen Forschung (FWF) finanziert: MO 1221. - Ich danke aufrichtig Michaela und Peter Liaunigg für die Hilfe bei der Redaktion des Beitrags. 1 Traditionsgemäß war man der Meinung, dass die „gotländische“ Fassung auf Gotland (in Wisby) aufgesetzt wurde, und die „Rigaer“ in Riga. Heutige Forschungen stellen diesen
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N iederdeutsches Jahrbuch 136 (2013)

War der deutsch-russische Vertrag von 1229 das erste Dokument in mittelniederdeutscher Sprache?*

Von Pavel Petrukhin, Moskau (RU)

1 Der Vertrag von 1229 garantierte friedliche Beziehungen zwischen dem Fürs­tentum Smolensk und dem Deutschen Ritterorden, der an der Ostküste der Ostsee Fuß gefasst hatte, und setzte gleichzeitig die Regeln für den Handel zwischen den deutschen und den russischen (Smolensker) Kaufleuten fest. In der russischen Ge­schichtsschreibung ist er als der Vertrag des Smolensker Fürsten Mstislav Davydovic mit Riga und dem Gotischen Ufer (Gotland) bekannt. Franklin (2002: 166) charakte­risiert die Bedeutung des Vertrages folgendermaßen:

In 1229 Pantelei and the priest Ieremei, envoys of Prince Mstislav Davidovich of Smolensk, travelled to Riga and Gotland to negotiate a formal agreement on terms and conditions of trade. The result was a detailed treaty which served as the stable foundation for mercantile relations, reaffirmed by successive princes at least until the end of the Century. The 1229 treaty is thus more than a single act, a single document, an event; it was accorded a kind of constitutional au- thority, acknowledged and maintained for generations. It is also by far the best attested document of its kind of its age: five thirteenth-century Slavonic copies survive (all in the archives of Riga), plus a sixth from the fourteenth Century.

Laut Goetz (1916: 304) ist der Vertrag „bei dem Reichtum seines Inhalts einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste aller deutsch-russischen Handelsverträge des Mittelalters“.

Nur der russische Text des Vertrages von Mstislav Davydovic (im Folgenden als Smolensker Vertrag bezeichnet) ist erhalten geblieben. Er hat zwei Fassungen: die „gotländische“ und die „Rigaer“* 1, welche jeweils in drei Abschriften - A, B, C bzw.

* Die Forschungen wurden vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaft­lichen Forschung (FWF) finanziert: MO 1221. - Ich danke aufrichtig Michaela und Peter Liaunigg für die Hilfe bei der Redaktion des Beitrags.

1 Traditionsgemäß war man der Meinung, dass die „gotländische“ Fassung auf Gotland (in Wisby) aufgesetzt wurde, und die „Rigaer“ in Riga. Heutige Forschungen stellen diesen

8 Pavel Petrukhin

D, E, F - vorliegen. Nach Meinung der meisten Forscher basiert die Rigaer Fassung auf dem lateinischen Text, während es sich bei der gotländischen Fassung um eine Übersetzung aus dem Mittelniederdeutschen handelt.

Obwohl der deutsche Text des Vertrages nicht erhalten geblieben ist, ist die Tatsache seiner Existenz zweifelsohne von Interesse für die Geschichte der nieder­deutschen Sprache. Bekanntlich fand die Praxis, Dokumente in Mittelniederdeutsch abzufassen, erst ab der Mitte des 14. Jh.s eine mehr oder weniger weite Verbreitung. Bis dahin bedienten sich die Hansekaufleute (wie natürlich auch ihre Schirmherren an der Ostküste der Ostsee, die deutschen Kreuzritter) vorwiegend des Lateinischen. Somit erhebt das hypothetische Original der gotländischen Fassung des Vertrags den Anspruch auf den Status eines der frühesten Sachtexte auf Mittelniederdeutsch. Neuere Unterlagen geben uns die Möglichkeit, die Datierung dieses Dokuments zu präzisieren und damit seinen Platz in der Geschichte des Niederdeutschen zu be­stimmen.

2 Betrachten wir zunächst die Argumente, die für das Vorhandensein eines mittel­niederdeutschen Originals für die gotländische Fassung sprechen. Es geht dabei um die Abschrift A, die älteste Abschrift dieser Fassung. Darin wurde eine ganze Reihe deutscher Lehnwörter entdeckt, wobei die Liste immer noch weiter ergänzt wird. Die meisten dieser Lehnwörter befinden sich in der Präambel und im Schlussteil des Vertrages, was nicht weiter verwundert: Beim Smolensker Vertrag handelt es sich um den ersten ostslawischen Text, der nach dem Muster des westeuropäischen (ur­sprünglich lateinischen) diplomatischen Formulars abgefasst wurde (Litvina 2002). Es ist klar, dass es bei den altrussischen Schreibern nicht üblich war, das Formular zu verwenden. Daher wurden einige Elemente dieses Formulars direkt übersetzt, andere aber nicht wörtlich, jedoch sehr nahe am Originaltext. Ein deutliches Beispiel dafür ist die Datierungsformel der Urkunde. Sie weist die gleiche Struktur auf wie die entsprechende deutsche Formel, wie ein Vergleich des Texts des Smolensker Vertrages mit der Hildesheimer Urkunde von 1272 belegt:

Koli sja gramota psana, isl<o> byl<o> o(tb) R(o)zb(s)tva G(ospodb)nja do sego leta 1000 le(tb) i 200 le(tb) 8 le(tb) i 20 (Ivanov und Kuznecov 2009: 569)2 3

‘Als diese Urkunde geschrieben wurde, waren vergangen von der Geburt des Herrn bis zu diesem Jahre 1228 Jahre’ (Goetz 1916: 292) [wörtlich: 1000 Jahre und 200 Jahre 8 Jahre und 20]

It waren irgangen, dhat is war, dhusent vnde twe hundert [iar]1 vnde twe vnde seuentich iar van vnses herin godes geborde, er desse bref gescreuen worde (Schröder 1936: 2).

Standpunkt in Zweifel (s. unten im vorliegenden Artikel), der Einfachheit halber werden die traditionellen Bezeichnungen beibehalten.

2 Die slawischen Ziffembezeichnungen sind durch die arabischen ersetzt.3 Im Manuskript durchgestrichen.

Der deutsch-russische Vertrag von 1229 9

Entgegen der altrussischen Tradition liegt dem Datum nicht die Zeitrechnung von der Entstehung der Welt, sondern von Christi Geburt zugrunde. Bereits Napiersky (1868: 409) hat festgehalten, dass in dieser Formel die deutsche Reihenfolge der Zahlen aufscheint, nämlich 8 Jahre und 20 als achtundzwanzig. Der Einfluss des deutschen Texts beschränkt sich jedoch nicht allein darauf: Übernommen wurden selbst solche Einzelheiten wie das deutsche Plusquamperfekt (vgl. isl<o> byl<o> in Übereinstimmung mit waren irgangen, s. Petrukhin 2012b), die Wiederholung der Konjunktion ‘und’ (altruss. i) und des Wortes iar (altruss. leto) nach fast jeder Zahl, vgl.: Dit is gheseghen na der geborth uses Herren obir thusen iar un ouere tweihun- dirth iar ind'e nvn un siuentighestin iare (Urkunde von 1279, Corpus Wilhelm, Bd. I, N. 392, S. 364).

Im Flinblick auf die Präambel des Vertrages wies Napiersky (1868: 409) auf die Germanismen ustok<b> morja (mnd. osterse) und bozij dvorjanim, (mnd. ridder Gots) hin. Kiparsky fand im Flauptteil des Vertrages Germanismen, unter anderem die deutsche Achttagewoche (Kiparsky 1960: 246) und den Ausdruck zemlederzci (mnd. landholder) (Kiparsky 1939: 86 sowie Kuckin 1966: 113); einige von ihm angeführte Germanismen sind indessen strittig.

Koskin (2008: 105-120) hielt zwei weitere deutsche Ausdrücke in der gotlän- dischen Fassung des Vertrages fest: dobrii ljudie ‘gute Leute’ und umen muz ‘ver­ständiger Mann’. Der erste Ausdruck (vgl. Goetz 1916: 232: wird es guten Leu­ten anvertraut) wird sechsmal verwendet (in der Präambel, im Schlussteil und im Haupttext) und entspricht der mittelniederdeutschen Standardformulierung gude lüde, welche Zeugen bezeichnet und ihrerseits auf den mittellateinischen Ausdruck boni homines mit derselben Bedeutung zurückgeht (Niermeyer et al. 2002: 134). In eben dieser Bedeutung scheint der Ausdruck im Smolensker Vertrag auf: Wenn eine Streitsache beendet ist [...] vor den Richtern und vor guten Leuten (Goetz 1916: 277; vgl. Koschkin 2004).

Der Ausdruck umen muz ‘verständiger Mann’ (vgl. Goetz 1916: 233: den ver­ständigen Mann Pantelej) entspricht dem deutschen wise lüde (Koskin 2008: 119f.). Im Schlussprotokoll der Abschrift A werden die verständigen Kaufleute erwähnt (Goetz 1916: 292), außerdem ist eine eigenartige Kontaminierung beider Ausdrü­cke zu beobachten: viele andere verständige gute Leute (Goetz 1916: 293), vgl. das Novgoroder Schreiben an Riga, Jurjev (Tartu) und Kolyvan’ (Tallinn) in mittelnie­derdeutscher Übersetzung aus dem Jahre 1417 (GVNP, Nr. 55): unde alle den raed- luden unde to allen wiisen guden luden (Koskin 2008: 120). Beide Ausdrücke sind lediglich für die gotländische Fassung des Vertrags charakteristisch: In der Riga­er Fassung werden dobrii ljudie ‘gute Leute’ nur einmal erwähnt, offensichtlich in Übereinstimmung mit dem lateinischen boni homines.

Setzt man diese Liste fort, kann man annehmen, dass die in der gotländischen Fassung verwendete Wortverbindung vse kupci ‘alle Kaufleute’ (vgl. Goetz 1916: 292: Diese Urkunde ist bestätigt durch das Siegel aller Kaufleute) die ursprüngliche deutsche Bezeichnung jener Vereinigung von Kaufleuten widerspiegelt, die in der Folge den Namen Hanse (Kaufmannshanse) erhielt: de gemene kopman (der gemei­ne Kaufmann).

10 Pavel Petrukhin

Bemerkenswert ist auch folgendes Detail: In den zwei Vertragsfassungen wird der Name des Smolensker Fürsten unterschiedlich geschrieben, in der Rigaer Fas­sung Mstislav Davydovic, in der gotländischen Mstislav Davydov syn ‘Mstislav des Davyd Sohn’. Obwohl die in der Abschrift A angeführte Schreibweise des Vaters­namens im Altrussischen an sich bekannt ist, ist es nicht unwesentlich, dass sie in anderer» Vertragsurkunden nicht vorkommt. Fürsten werden in Vertragsurkunden entweder mit Vornamen und Vatersnamen auf -ic (wie in der Rigaer Fassung des Smolensker Vertrages), oder aber (in früheren Urkunden sogar häufiger) nur mit dem Vornamen genannt. Gleichzeitig entspricht das Modell mit dem Wort syn ‘Sohn’ der Art und Weise, auf welche russische Namen in mittelalterlichen deutschen Urkun­den wiedergegeben wurden. So beginnt die Vertragsurkunde der Stadt Novgorod mit Lübeck und dem Gotischen Ufer über Flandel und Gerichtsbarkeit aus dem Jahre 1269 (GVNP, Nr. 31), die im Namen des Fürsten Jaroslav Jaroslavic verfasst wurde und in der mittelniederdeutschen Übersetzung erhalten geblieben ist, mit den Wor­ten: Ic coning Jeretslawe coning Jeretslawen sone. Man vergleiche auch die Intitu- latio des Entwurfs der Urkunde des Friedensvertrags der Stadt Novgorod mit dem Livlandorden und dem Jurjewer Bischof aus dem Jahre 1420 (GVNP, Nr. 59): Ich koning Constantyne Dymytirson; ebendort werden zum Beispiel auch Cuseman Ter- entenson (Kuz’ma Terent’evic) und Zachare Jhezypisson (Zaxar Josipovic) erwähnt. Ein weiteres Beispiel finden wir im Vertrag zwischen Novgorod und den Hansestäd­ten von 1423 (GVNP, Nr. 62), wo der Possadnik Wassile Mikitenson (VasiF Mikitic) und der Tausendschaftsführer Owrame Stopenenson (Ovram Stepanovic) erschei­nen. Typisch ist das Schreiben des Polotzker Statthalters Ivan Semenovic an den Rigaer Stadtrat aus dem Jahre 1409, das in zwei Varianten - einer russischen und einer deutschen - erhalten geblieben ist: Die russische Intitulatio Oto knjazja Ivana Semenovica ‘Vom Fürsten Ivan Semenovic’ (PG, Nr. 40) lautet in der Übersetzung: Wy hertoge Johan Symonen son (PG, Nr 39).4 So lässt sich also die Wiedergabe des Vatersnamens durch das Wort syn ‘Sohn’ in der gotländischen Vertragsfassung mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Einfluss des deutschen Originals erklären.

3 Somit steht die Tatsache, dass bei der Erstellung der Abschrift A des Vertrages der mittelniederdeutsche Text Verwendung fand, außer Zweifel. Gehen wir davon aus, entsteht jedoch folgendes Problem. Laut Nagel (2002) sind uns heute weniger als dreißig mittelniederdeutsche Dokumente bekannt, die aus dem 13. Jh. datieren. Davon stammen mehr als zwei Drittel aus den 90er Jahren des 13. Jh.s oder aus der Zeit an der Schwelle vom 13. zum 14. Jh., sieben aus der Zeit von 1265 bis 1289 und lediglich zwei sind früher datiert. Beim ersten der beiden letzteren handelt es sich um einen kurzen lateinischen Text mit Einsprengseln deutscher Sätze, beim zweiten um den Text des Stadtrechts von Braunschweig Jus Ottonianum, welcher

4 Daneben tauchen im 15. Jh. Transliterationen russischer Vatersnamen und sogar Auf­zeichnungen wie van dem borghermester van Grote Nougarden Borisa Jurgevitza, van dem hertogen [van] Grote Nougarden Fodora Jacolvitza (GVNP, Nr. 66, 1436) auf, wo in den Namen die russische Genitivendung beibehalten wird.

Der deutsch-russische Vertrag von 1229 11

nach vorherrschender Meinung 1227 geschrieben wurde, laut Freise (1995: 452) aber Anfang der 30er Jahre. Nimmt man folglich den traditionellen Standpunkt ein, nach welchem die Abschrift A das Original des Vertrages von 1229 ist, so erweist sich der dieser Abschrift zugrunde liegende Text als der erste der uns bekannten in Mittelniederdeutsch. In der Tat erwähnt Lasch (1914: 4) den Smolensker Vertrag als das (nach dem Jus Ottonianum) früheste Zeugnis der Verwendung des Mittelnieder­deutschen in Geschäftsdokumenten. Dabei haben wir einen Text vor uns, der nach allen Regeln der damaligen diplomatischen Etikette abgefasst ist, in dem insbeson­dere Formularelemente wie die Arenga und die Promulgation Verwendung finden (Litvina 2002), aber auch eine Datierungsformel, welche gänzlich von der lateini­schen abweicht (s. Beispiel oben). Anders gesagt, dieser Text sieht keinesfalls wie ein „Schreibversuch“ aus.

Allgemein gesprochen ist der Einsatz des Mittelniederdeutschen im Rahmen der russisch-deutschen geschäftlichen und politischen Kontakte im 13. Jh. nicht erstaun­lich. Squires (2009: 149) beispielsweise schreibt:

„Die ältesten niederdeutschen Texte, die in, für Russland, oder in Zusam­menhang mit russischen Angelegenheiten erschienen, gehören zu den ältes­ten niederdeutschen Texten überhaupt, die nach der 150-jährigen Pause in der volkssprachlichen schriftlichen Überlieferung die niederdeutsche Periode eröff- neten. Ein reger Austausch zwischen Nowgorod und dem Westen wird schon in Niederdeutsch geführt, als Texte der innerhansischen Instanzen noch in Latein geschrieben werden“ (Hervorhebungen von Squires).5

Zu den frühen mittelniederdeutschen Texten gehört insbesondere die oben zitierte deutsche Variante des Vertrages des Fürsten Jaroslav Jaroslavic aus dem Jahre 1269. Und doch sind die Dokumente, um die es hier geht, nicht vor dem letzten Drittel des 13. Jh.s datiert - der Zeit, mit der der stete Anstieg der Abfassung von Schriftstücken in Mittelniederdeutsch beginnt. Hingegen geht der Vertrag des Mstislav Davydovic der Epoche der aktiven Entwicklung des mittelniederdeutschen Schrifttums um ei­nige Jahrzehnte voraus.

Diese Überlegungen zwingen uns, der Frage, zu welcher Zeit die uns interessie­rende Urkunde geschrieben wurde, größere Aufmerksamkeit zu schenken. Es gibt diesbezüglich keine einhellige Meinung, wobei die einzelnen Datierungen zudem ziemlich stark von einander abweichen.

Die Forschungsgeschichte stellt sich wie folgt dar: Die Autoren der grund­legenden Studien über die Verträge zwischen Smolensk und Riga, Golubovskij (1895: 116f.) und Goetz (1916: 300), hielten die Abschrift A für das Original des Vertrages von 1229. Später wies Lichacev (1928: 22f.) daraufhin, dass das Siegel, mit dem die Urkunde zusammengeklammert ist, dem Smolensker Fürsten Feodor Rostislavic (1280-1297) gehört, und nahm an, dass die Abschrift ebenfalls zu seiner Zeit erstellt wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach 1284, als dieser Fürst die Bestä­tigungsurkunde nach Riga schickte. Diesem Standpunkt schloss sich Zimin (1953:

5 Über die Gründe dieses interessanten Phänomens s. ebd.

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56) an. Im Jahr 1963 kam jedoch eine Monographie mit einer Edition der Smolens- ker Urkunden heraus, deren Autoren, sich auf paläographische Daten stützend, neu­erlich die Abschrift A zum Vertragsoriginal erklärten; was aber das Siegel betrifft, so wurde dieses ihrer Meinung nach später, im Zusammenhang mit der nochmaligen Verwendung der Abschrift, angehängt (Sumnikova und Lopatin 1963: 54). Diese Hypothese wurde von Kuckin (1966) angefochten, welcher wiederum davon aus­ging, dass die Abschrift A unter der Herrschaft des unmittelbaren Nachfolgers Feo- dor Rostislavics, nämlich Mixail Rostislavic’ (1277-1279), erstellt wurde.

Leider hat die Mehrheit der Fachleute die Arbeit Kuckins, die für die Erfor­schung der Smolensker Urkunden von wesentlicher Bedeutung ist, aus den Augen verloren. Und da die Ausgabe von Sumnikova und Lopatin viele Jahre lang als Hauptquelle für Informationen über die Smolensker Urkunden diente, setzte sich die darin angeführte Annahme, es handle sich bei der Abschrift A um das Original des Vertrages von 1229, in der nachfolgenden Literatur durch und wurde so zu einer Art Axiom.6

Vor kurzem erschien eine Neuausgabe der Smolensker Urkunden von Ivanov und Kuznecov (2009), welche eine umfangreiche Erforschung der Geschichte und Textologie des Smolensker Vertrages beinhaltet. Ivanov und Kuznecov, die sich zur Gänze auf die paläographische Beurteilung des Manuskripts in der vorhergehenden Ausgabe von Sumnikova und Lopatin (1963) stützen, halten ebenfalls die Abschrift A für das Original des Vertrages von 1229. Dieser Arbeit ist eine eingehende Re­zension gewidmet (Petrukhin 2012a). Insgesamt ist die Konzeption von Ivanov und Kuznecov nicht überzeugend.

Sehen wir uns die Argumente zugunsten einer früheren und einer späteren Datie­rung der Urkunde nun genauer an. Wie bereits erwähnt, stützt sich die Schlussfolge­rung Sumnikovas und Lopatins, dass es sich bei der Abschrift A höchstwahrschein­lich um das Vertragsoriginal von 1229 handelt, auf eine Schriftanalyse der Urkunde. Ein derartiger Ansatz ist jedoch zweifelhaft. Paläographische Beobachtungen erlau­ben es prinzipiell nicht, ein Manuskript mit einer Genauigkeit von einigen Jahren zu datieren (und genau darin besteht die Aufgabe). Doch selbst wenn wir uns mit einer breiteren Datierung (mit einer Genauigkeit von einigen Jahrzehnten) zufrieden gä­ben, hätten wir zweifelsohne nicht genügend Daten, um entscheidende Schlussfol­gerungen zu ziehen: Dazu müssten wir über eine genügend große Sammlung zeitlich nahe liegender funktional gleichartiger Texte verfügen, von denen einige eine relativ verlässliche nicht paläographische Datierung aufweisen; im vorliegenden Fall haben nach Meinung von Sumnikova und Lopatin (1963: 14f.) selbst nur die beiden kur­zen Urkunden des Fürsten Feodor Rostislavic aus dem Jahr 1284 eine sichere nicht paläographische Datierung. Die Schriftdaten der Abschrift A sind widersprüchlich: Sie weisen sowohl frühe, als auch späte Merkmale auf (Kuckin 1966: 112). Die Datierung der Urkunde erfolgt de facto aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Schrift mit

6 Eine seltene Ausnahme ist Schaeken (2003: 262), der auch eine andere Datierung (1284) anführt.

Der deutsch-russische Vertrag von 1229 13

der Schrift des so genannten Vertrags des unbekannten Smolensker Fürsten, dessen Datum seinerseits erst zu bestimmen ist (Sumnikova und Lopatin 1963: 52f.).

Berücksichtigt man diese Umstände, so kann man nicht umhin, sich Kuckins (1966: 107) Standpunkt anzuschließen, dass bei der Bestimmung des Datums der Abschrift A und ihres Platzes unter den anderen Kopien des Vertrags „die entschei­dende Bedeutung dem textologischen Kommentar des Schriftdenkmals zukommen sollte“.7 Kuckin lenkt das Augenmerk darauf, dass die Anzahl der Verträge zwischen Smolensk und Riga - sowohl der erhalten gebliebenen als auch der aufgrund tex- tologischer Beobachtungen anzunehmenden - ungefähr mit der Anzahl der Fürsten zusammenfallt, die von 1233 bis 1358 den Smolensker Thron innehatten. In der folgenden Tabelle wird das von Kuckin (1966: 111) vorgeschlagene Schema darge­stellt.8

Smolensker Fürsten Abschriften der Verträge zwischen Smolensk und Riga

Svjatoslav Mstislavic (1233-1240) Vertrag des unbekannten FürstenVsevolod Mstislavic (1240-?) [Abschrift E der Rigaer Fassung

ohne Zusatz, Protograph der Abschrift F], ohne Siegel

Rostislav Mstislavic (7-1270) (Abschrift E der Rigaer Fassungmit Zusatz über die Tataren), ohne Siegel

Gleb Rostislavic (1270-1277) Abschrift D der Rigaer Fassung, Siegel des Fürsten Gleb Rostislavic

Mixail Rostislavic (1277-1279) [Abschrift A der gotländischen Fassung, Siegel eines anderen Fürsten?]

Feodor Rostislavic (1280-1297) Abschrift A der gotländischen Fassung, Siegel des Fürsten Feodor Rostislavic

Aleksandr Glebovic (1297-1313) Abschrift B der gotländischen Fassung, Siegel des Fürsten Aleksandr Glebovic

Ivan Aleksandrovic (1313-1358) Abschrift C der gotländischen Fassung, ohne Siegel

Kuckin (1966: 112) kommt also zum Schluss, dass „offensichtlich jeder Smolensker Fürst einen Vertrag mit Riga und dem Gotischen Ufer abschloss oder erneuerte“:

7 Die Zitate aus der russischen Fachliteratur wurden hier und im Folgenden von mir, P. P., übersetzt.

8 In eckigen Klammem sind die hypothetischen Abschriften angeführt, in runden Klam­mem die Abschrift mit hypothetischer Zuordnung.

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aus der Tabelle ist klar ersichtlich, dass die Abschriften der Fassungen einander nicht abwechseln.9 Die Abschriften der Rigaer Fassung sind früher entstanden, sie stammen ungefähr aus dem dritten Viertel des 13. Jh.s. Auf sie folgen die Abschriften der gotländischen Fassung. Zur gleichen Schlussfolgerung gelangt man auch bei einer textologischen Analyse der Fassungen. Die angeführten Da­ten lassen darauf schließen, dass es sich bei der Rigaer und der gotländischen Fassung des Vertrags von 1229 um zwei verschiedene, auf dem Vertrag von 1229 basierende Verträge handelt“.10

Dafür, dass die Rigaer Fassung die ältere ist, spricht z. B. die konsequente Ver­wendung der Ausdrücke „Deutsche“ und „deutsche Kaufleute“, wohingegen in der gotländischen Fassung vor allem die Ausdrücke „Lateiner“ und „lateinischer Gast“ aufscheinen. Kuckin (ebd.: 109) hält fest, dass das Ethnonym „Deutsche“ für die frühen ostslawischen Schriftdenkmäler charakteristisch ist, der Ausdruck „Lateiner“ hingegen erst später in Erscheinung tritt. Ebenfalls

von einer späteren Verwendung der Ausdrücke ,Lateiner* und ,lateinisch* im Vergleich zu den Ausdrücken ,Deutscher* und ,deutsch* zeugt die Tatsache, dass letztere in der gotländischen Fassung in vier von Golubovskij aufgezeigten Fällen Verwendung finden. Die Rigaer Fassung kennt keine derartige Vermi­schung. (Ebd.)

Außerdem erwähnen die Rigaer Fassung wie auch der Vertrag von 1191-1192 die Kunen-Grivna und die Silbergrivna, während in der gotländischen Fassung nur die spätere Kunen-Grivna aufscheint (ebd.: 109f.). Kuckin führt in seinem Artikel noch eine Reihe anderer Argumente an, die daraufhinweisen, dass die gotländische Fas­sung des Vertrags (und folglich auch ihre älteste Kopie, die Abschrift A) zeitlich ziemlich weit vom Vertrag des Fürsten Mstislav Davydovic entfernt ist; insbeson­dere waren einige Punkte des Vertrages zum Zeitpunkt der Erstellung der Abschrift A deutlich veraltet.

4 Somit gibt es berechtigte Gründe anzunehmen, dass die älteste Abschrift der gotländischen Fassung des Vertrags in der zweiten Flälfte des 13. Jh.s entstanden ist. Lässt sich diese Datierung präzisieren? Wie bereits erwähnt, wurden von den Anhängern der späten Datierung der Abschrift A zwei ffypothesen aufgestellt: Nach Meinung von Lichacev (1928: 22f.) und Zimin (1953: 56) sei die Urkunde unter Feo- dor Rostislavic (1280-1297) geschrieben worden, wohingegen Kuckin (1966: 112) vermutete, dass sie seinem Vorgänger, dem Smolensker Fürsten Mixail Rostislavic (1277-1279) zuzuschreiben sei.

Kuckins Hypothese erlaubt es, die Lücke in dem von ihm vorgeschlagenen Schema zu schließen: Wie bereits erwähnt, nimmt Kuckin nach Golubovskij an,

9 Das bei Sumnikova und Lopatin (1963: 62) vorgeschlagene Schema ging von einer durch nichts zu motivierenden Altemation der Rigaer und gotländischen Fassungen aus.

10 Die traditionelle Sichtweise bestand darin, dass beide Fassungen 1229 von Botschaftern Mstislav Davydovics erstellt wurden.

Der deutsch-russische Vertrag von 1229 15

dass, beginnend mit Mstislav Davydovic, ,jeder Smolensker Fürst einen Vertrag mit Riga und dem Gotischen Ufer abschloss oder erneuerte“ (ebd.); dabei blieb in der Tabelle (s. oben) nur neben dem Namen Mixail Rostislavic die Rubrik leer. Ein zusätzliches Argument bestand hier darin, dass laut Sumnikova und Lopatin (1963: 53), abgesehen von den zwei silbernen Hängesiegeln - eines von Feodor Rostislavic und eines von Bischof Porfirij - , in der Urkunde noch ein weiterer Einschnitt von ei­nem nicht erhalten gebliebenen Siegel vorhanden ist. Nach Meinung Kuckins (1966: 112) hätte dieses Siegel Mixail Rostislavic gehören können; in der Folge sei es, bei der Bestätigung des Vertrages durch Feodor Rostislavic, abgeschnitten und durch zwei neue Siegel ersetzt worden. Der neuesten Ausgabe zufolge handele es sich aber bei diesem Einschnitt um „einen Defekt des Pergaments, der, wie es scheint, im Verlauf einer unqualifizierten Bearbeitung entstanden ist“ (Ivanov und Kuznecov 2009: 270).

Andererseits geben uns historische Quellen eine durchaus eindeutige Antwort auf die Frage, warum es unter Mixail Rostislavic nicht zur üblichen Erneuerung des Vertrages kam. Genau zur Zeit der Herrschaft dieses Fürsten (1277-1279) gab es eine Handelsblockade gegen die Rus’ von Seiten Rigas und der deutschen Kaufleute (Goetz 1922: 52fi). Als Initiator dieser Blockade trat Riga auf: In einem Brief vom 4. Februar 1278 danken der Erzbischof von Riga, Johannes von Lune, der Meister des Deutschen Ordens in Livland, Emst von Ratzeburg, und Eylard von Oberg, däni­scher Vogt zu Reval und Wireland, den Lübecker Behörden und allen an der Ostsee Handel treibenden deutschen Kaufleuten fiir ihr Einverständnis, den Handel mit der Rus’ einzustellen, und rufen sie auf, die Blockade fortzusetzen (LübUB, Bd. I, Nr. 391). Wahrscheinlich gab es zur gleichen Zeit auch kriegerische Auseinandersetzun­gen zwischen den Livländer Rittern und den russischen Fürsten: Quellenangaben zu­folge unterstützten letztere den litauischen Großfürsten Traidenis in seinem Kampf gegen die Livländer (Selart 2007: 251).

Möglicherweise erklären die erwähnten Ereignisse nicht nur die „Lücke“ in der Reihenfolge der Abschriften des Smolensker Vertrages, sondern auch das Erscheinen seiner neuen („gotländischen“) Fassung unter Feodor Rostislavic. In der Tat erinnern die Umstände, die der Erstellung der Abschrift A vorausgingen, an die Geschichte der Entstehung des Vertrages des Fürsten Mstislav Davydovic von 1229. Wie aus der Präambel hervorgeht, sollte letzterer der Feindschaft zwischen Smolensk und Riga ein Ende setzen: Sie bestätigten den Frieden, denn es war kein Friede zwischen Smolensk und Riga und dem Gotischen Ufer{Goetz 1916: 234). Die gleiche Aufgabe erfüllte offensichtlich auch der Vertrag von Feodor Rostislavic aus dem Jahr 1284. Außerdem heißt es in der Präambel des Vertrags von 1229, dass er [i]n dem Jahr, als Albrecht der Bischof von Riga starb (ebd.: 233) abgeschlossen wurde, d. h. nach dem Tod von Bischof Albert von Bekeshovede (Buxhöveden), eines Verfechters der harten Politik des Deutschen Ordens der Rus’ gegenüber. Der Vertrag des Fürsten Feodor Rostislavic wiedemm wurde im Todesjahr des Rigaer Erzbischofs Johannes von Lune, eines der Initiatoren der Handelsblockade gegen die Rus’,11 abgeschlossen

11 Siehe über ihn Jähnig 2001: 649.

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(der Meister des Ordens, Emst von Ratzeburg, ebenso ein Initiator der Blockade, starb 1279).

Ein Widerhall der Zwistigkeiten zwischen den beiden Seiten ist noch in der Be­stätigungsurkunde des Fürsten Feodor Rostislavic von 1284 zu vernehmen, die der Abschrift A beigelegt wurde (Choroskevic 1997: 130). In einem völlig anderen Ton ist zum Beispiel die Bestätigungsurkunde von Aleksandr Glebovic gehalten, die die Abschrift B der gotländischen Fassung begleitet und Teil der routinemäßigen Emeu- erungsprozedur eines früheren Vertrages durch einen Fürsten ist, der den Vorgänger ablöst: Wie ihr in Frieden (wörtlich: „in Liebe“) wart mit meinem Vater Gleb und mit meinem Onkel Feodor, so seid auch ihr mit mir in Frieden (Goetz 1916: 334). Es ist übrigens charakteristisch, dass Aleksandr Glebovic, wenn er sich auf seine Vor­gänger beruft, die mit den Deutschen „in Frieden“ waren, Gleb Rostislavic (1270- 1277) und Feodor Rostislavic (1280-1297) erwähnt, nicht aber Mixail Rostislavic (1277-1279).

Andererseits sind auch jene wichtigen strukturellen, die Ostseeregion direkt be­treffenden Veränderungen nicht zu übersehen, die die Hanse zu Beginn der 1280er Jahre erlebte. Im Jahr 1280 schloss die deutsche Gemeinde Gotlands (vielleicht im Zusammenhang mit dem mssisch-deutschen Konflikt, wie Goetz [1922: 54f.] an­nimmt) ein Bündnis mit den Lübecker Kaufleuten. 1282 trat Riga diesem Bündnis bei, 1283 Reval (über den Zeitpunkt des Beitritts von Dorpat gibt es keine Unterla­gen). Im selben Jahr, 1283, haben mehrere deutsche Städte an der Südküste der Ost­see einen Vertrag miteinander abgeschlossen. Im Zuge dieser Ereignisse verlagerte sich das Verwaltungszentram der Hanse allmählich von Wisby nach Lübeck (Rybina 2009: 66-68).

Es ist anzunehmen, dass eben diese Ereignisse - der Konflikt zwischen der Rus’ und dem Deutschen Ritterorden und die weit reichenden Veränderungen in der Verwaltungsstraktur der Hanse - gemeinsam dazu führten, dass es unter Feodor Rostislavic nicht einfach zu einer routinemäßigen Bestätigung der früheren deutsch­russischen Vereinbarungen kam, sondern eine neue Fassung des Vertrages erstellt wurde (es sei daran erinnert, dass es sich laut Kuckin [1966: 112] bei der gotländi­schen Fassung im Grande um einen neuen Vertrag handelt, der auf dem Vertrag von 1229 basiert).

Zum Schluss noch eine Ergänzung zu den sprachlichen Besonderheiten der Abschrift A. Selbstverständlich kann man, wenn ein Text einer relativ kurzen Zeit­spanne (etwa ein halbes Jahrhundert) zuzuordnen ist, die Sprache des Dokuments nicht als verlässliches Kriterium heranziehen. Nichtsdestoweniger muss festgehal­ten werden, dass die Abschrift A einige zweifelsohne spätere sprachliche Merkmale aufweist, wodurch sie sich von einer Reihe anderer Dokumente dieser Zeit abhebt, sodass die Abschrift A in Arbeiten über die Geschichte der russischen Sprache ge­wöhnlich die Rolle jenes Schriftdenkmals spielt, in welchem die ersten Fälle der Verwendung einer ganzen Reihe neuer Formen auftreten (Petrakhin 2013).

Fassen wir zusammen: Viele Faktoren weisen darauf hin, dass es sich bei der Abschrift A nicht um das Original des Vertrages von 1229 handelt, sondern um den Text einer späteren Fassung, genauer, um das Original eines Vertrages, der unter Feodor Rostislavic (1280-1297) abgeschlossen wurde. Abgesehen von anderen

Der deutsch-russische Vertrag von 1229 17

Überlegungen spricht die Tatsache, dass diese Urkunde ein deutsches Original hat, für ihre spätere Datierung. Wir gehen davon aus, dass Kuckins Konzeption die Ge­schichte des Vertrags und die Textologie seiner Abschriften durchaus überzeugend erklärt, wobei die von ihm festgestellte „Lücke“, die mit dem Namen des Smo- lensker Fürsten Mixail Rostislavic zusammenhängt und ganz offensichtliche histo­rische Gründe hat, die Richtigkeit des allgemeinen Schemas lediglich unterstreicht. Unsere Analyse bestätigt die Richtigkeit des Standpunkts Lichacevs, dem zufolge die Abschrift A im Jahre 1284 in Zusammenhang mit dem Abschluss des Vertrages zwischen Riga und Smolensk unter dem Fürsten Feodor Rostislavic erstellt wurde. Wie auch die beiden anderen Kopien der gotländischen Fassung - Abschrift B von Aleksandr Glebovic und Abschrift C von Ivan Aleksandrovic - wird die Abschrift A von einer Bestätigungsurkunde des Fürsten Feodor Rostislavic begleitet. Der Ver­trag und seine Bestätigungsurkunde weisen durchaus nicht unwichtige gemeinsame paläographische und textologische Besonderheiten auf (Petrukhin 2012b). Somit hat das Lettische Historische Staatsarchiv (Riga) eine unikale Sammlung von Origi­naldokumenten für uns aufbewahrt, aus welchen die Prozedur ersichtlich ist, die bei Vertragsabschlüssen und -bestätigungen zwischen dem altrussischen Fürstentum und seinen westlichen Nachbarn im Laufe dreier russischer Fürstengenerationen üb­lich war.

Die dargelegte Konzeption ermöglicht es, mehrere Probleme und Widersprüche im Zusammenhang mit dem Smolensker Vertrag mit einem Mal zu lösen: Entgegen der traditionellen Datierung (1229) fügt sich die Datierung Lichacevs (1284) durch­aus in das Gesamtbild der Vertragsgeschichte ein und lässt sich gleichzeitig gut mit den heutigen Vorstellungen über die Geschichte des mittelniederdeutschen Schrift­tums in Einklang bringen.

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