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Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und Ironie. Die Musik in den Schriften Benjamin v....

Date post: 10-Nov-2023
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Ralf von Appen Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und Ironie. Die Musik in den Schriften Benjamin v. Stuckrad-Barres R Rock oder Ironie? Diese Wahl ist für Benjamin v. Stuckrad-Barre (“1975) und die Autoren, die mit ihm in Tristesse Royale vorgeben, ein »Sittenbild [ihrer] Generation«’ zu entwerfen, die wesentliche »Leitdifferenz«* zwischen zwei grundsätzlichen Lebens- haltungen unserer Zeit. Rock und Ironie - dies sind auch mögliche Kategorien zur Beschreibung der Musik, die Stuckrad-Barre in seinem Debütroman Soloalbum3 erklin- gen läßt und die dabei nicht nur als Illustration, sondern als Paradigma für mögliche Weltsichten dient. Ausgehend von einleitenden Bemerkungen zum Verhältnis von Pop- literatur und Popmusik und deren besonderer Verknüpfung bei Stuckrad-Barre möchte ich im folgendenam Beispiel von Soloalbum überlegen, welche Funktionen das umfangreiche Einbeziehen popmusikalischer Referenzen dort übernimmt und wofür die Musik steht, auf die sich der Autor dabei bezieht. Aus diesen Analysen ergeben sich dann Parallelen zwischen der propagierten Musikästhetik und der in Stuckrad-Barres Schriften erkennbaren literarischen Ästhetik, wodurch sich wiederum die grund- sätzliche Haltung des Autors seiner Zeit und seiner Kultur (pointiert also der Frage nach Rock oder Ironie) gegenüber erhellt - eine Haltung, von der ja viele meinen, sie bringe das Lebensgefühl zahlreicher Leser zum Ausdruck. Popliteratur und Popmusik I Seit ihrem Entstehen in den späten 1960er Jahren ist die sogenannte Popliteratur mit Popmusik verbunden. In Deutschland setzte Rolf Dieter Brinkmann, inspiriert von Autoren der Beat Generation, die ähnlich mit dem Bebop verfuhren, als erster Pop- musikverweise und der Popästhetik analoge Gestaltungsmittel ein, um (hierbei wieder- um von dem Postmoderne-Vordenker Leslie Fiedler angeregt) die Grenzen zwischen Hoch- und Popularkultur zu sprengen und dem verabscheuten Spießbürger-System l Joachim Bessing (Hg.), Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Jouchim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-Barre, Berlin 1999, S. 2, vgl. v. a. den Abschnitt Der Rock, S. 138-146. 2 Moritz Baßler, Der deutsche Pep-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 132. 3 Benjamin v. Stuckrad-Barre, Soloalbum, Köln 1998.
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Ralf von Appen

Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und Ironie. Die Musik in den Schriften Benjamin v. Stuckrad-Barres

R Rock oder Ironie? Diese Wahl ist für Benjamin v. Stuckrad-Barre (“1975) und die Autoren, die mit ihm in Tristesse Royale vorgeben, ein »Sittenbild [ihrer] Generation«’ zu entwerfen, die wesentliche »Leitdifferenz«* zwischen zwei grundsätzlichen Lebens- haltungen unserer Zeit. Rock und Ironie - dies sind auch mögliche Kategorien zur Beschreibung der Musik, die Stuckrad-Barre in seinem Debütroman Soloalbum3 erklin- gen läßt und die dabei nicht nur als Illustration, sondern als Paradigma für mögliche Weltsichten dient. Ausgehend von einleitenden Bemerkungen zum Verhältnis von Pop- literatur und Popmusik und deren besonderer Verknüpfung bei Stuckrad-Barre möchte ich im folgendenam Beispiel von Soloalbum überlegen, welche Funktionen das umfangreiche Einbeziehen popmusikalischer Referenzen dort übernimmt und wofür die Musik steht, auf die sich der Autor dabei bezieht. Aus diesen Analysen ergeben sich dann Parallelen zwischen der propagierten Musikästhetik und der in Stuckrad-Barres Schriften erkennbaren literarischen Ästhetik, wodurch sich wiederum die grund- sätzliche Haltung des Autors seiner Zeit und seiner Kultur (pointiert also der Frage nach Rock oder Ironie) gegenüber erhellt - eine Haltung, von der ja viele meinen, sie bringe das Lebensgefühl zahlreicher Leser zum Ausdruck.

Popliteratur und Popmusik I

Seit ihrem Entstehen in den späten 1960er Jahren ist die sogenannte Popliteratur mit Popmusik verbunden. In Deutschland setzte Rolf Dieter Brinkmann, inspiriert von Autoren der Beat Generation, die ähnlich mit dem Bebop verfuhren, als erster Pop- musikverweise und der Popästhetik analoge Gestaltungsmittel ein, um (hierbei wieder- um von dem Postmoderne-Vordenker Leslie Fiedler angeregt) die Grenzen zwischen Hoch- und Popularkultur zu sprengen und dem verabscheuten Spießbürger-System

l Joachim Bessing (Hg.), Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Jouchim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-Barre, Berlin 1999, S. 2, vgl. v. a. den Abschnitt Der Rock, S. 138-146.

2 Moritz Baßler, Der deutsche Pep-Roman. Die neuen Archivisten, München 2002, S. 132. 3 Benjamin v. Stuckrad-Barre, Soloalbum, Köln 1998.

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etwas Lebendiges, Rebellisches entgegenzusetzen.4 Doch beschränkt sich das Präfix Pop I

im Zusammenhang mit Literatur weder bei Brinkmann noch bei nachfolgenden Autoren wie Wolf Wondratschek, Rainald Goetz oder Thomas Meinecke nur auf Referenzen zu aktueller Musik. Wie die Popart thematisiert Popliteratur gegenwärtige Alltagskultur, sie zitiert Werbeslogans und die Boulevardpresse, bezieht sich auf Comics, Kinofilme, Soap-Operas oder Pornographie. Und nicht erst bei Alexa Hennig von Lange, Christian Kracht, Frank Goosen oder Benjamin Lebert stehen jugendliche oder postadolenszente Lebenswelten im Mittelpunkt, die von Sex, Rausch, Partys, der Suche nach dem intensiven Kick und der demonstrativen Abgrenzung von anderen durch Mode, Musik und Sprache geprägt erscheinen. Dazu kommen als weitere Pop- Aspekte die enorme Popularität der Autorinnen und Autoren bei einem sehr heterogenen Publikum und die (damit verbundene) Geringschätzung durch Vertreter der bürgerlichen Kulturkritik. Viele der genannten Autoren pflegen zudem ein Popstar- Image und vermarkten sich durch große Medienpräsenz und umfangreiche Lese- Tourneen.

Funktionen der Musik in Stuckrad-Barres Soloalbum

All diese Pop-Charakteristika finden sich in Werk und Person Benjamin v. Stuckrad- Barres konzentriert und gesteigert wie bei keinem zweiten: Soloalbum bezieht nicht nur wie das gewiß als Anregung dienende Hicgh Fidelity5 des Briten Nick Hornby den Titel (und damit die Umschlaggestaltung mit Schallplattenabbildungen) aus dem Bereich der Popmusik. Die einzelnen Kapitel tragen zudem allesamt Songtitel der britischen Band Oasis und sind wie die Stücke einer LP in eine A- und B-Seite aufgeteilt. Spätere Bücher heißen Livealbum und Remix, auf den Tonträgerveröffentlichungen Live- recodings und Bootleg finden sich Lesungen dokumentiert.6 Auch in den Werbetexten wird extensiv auf das Vokabular der Popmusik zurückgegriffen. So habe der Autor die Texte aus seiner Zeit als (Musik-) Journalist, die in Remix eine Zweitverwertung finden, »nachgebessert (Sound! Rhythmus! Refrains!) «, so daß »gestraffte Single-edits und angereicherte Maxi-Versionen« entstanden seien, die das Buch zu einer »kompakten

4 Vgl. Leslie A. Fiedler, überquert die Grenze, schlie$t den Graben! über die Postmoderne [Cross the border, close the gap, 19681, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 1994, S. 57-74. Zum Verhältnis Brinkmanns zur Rockmusik vgl. Jan Röhnert, Meine blauen Wildlederschuhe. Notizen zu Rolf Dieter Brinkmann und der allmählichen Veränderung von Poesie nach dem Hören von Rockmusik, in: Titel. Magazin für Literatur und Film, http://www.titel-magazin.de/lit-themen/rockinwortl.htm (Zugriff am 07.03.2004) und Baßler, Der deutsche Pop-Roman, S. 164-165.

5 Nick Hornby, High Fidelity, Köln 1996 [London 19951. 6 Benjamin v. Stuckrad-Barre, Livealbum, Köln 1999; ders., Remix, Köln 1999; ders., Liverecordings,

Hörverlag 1999; ders., Bootleg. Mundraub, Hörverlag 2000.

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Best-of-Sammlung« machten.7 Rein äußerlich empfehlen sich die Publikationen damit einer Zielgruppe, die gemeinhin weniger Bücher als Pop-CDs kauft. Doch die Bezüge bleiben natürlich nicht äußerlich; schon das Setting von Soloalbum ist von Popmusik geprägt und auch das Thema ist ein in tausend Songs besungenes:

In Soloalbum erleben wir einen dem Autor in einigen biographischen Details gleichenden Ich-Erzähler, der von seiner Freundin verlassen wurde und darüber nur langsam hinwegkommt. Diese Minimalhandlung bildet den Rahmen für allerhand pointierte Alltags- und Selbstbeobachtungen, für beiläufige Kulturanalysen und Szenebeschreibungen voller Schärfe und Humor. Das namenlose Ich führt uns durch seine nur halbherzig verfolgten Berufe als Musikjournalist und Angestellter eines Musiklabels (eben diese Positionen bekleidete Stuckrad-Barre beim deutschen Roliing Stone und bei Motor Music), wir folgen ihm in Plattenläden, auf Konzerte, einige Partys und einen Rave. Als frisch Verlassener betrachtet er seine Umwelt zumeist als reflektierender Außenstehender, der sich mit nichts wirklich identifiziert und voller Spott vermeintliche Fehltritte ästhetischer (v. a. modischer, sprachlicher und musika- lischer) Art in seiner Umgebung beschreibt.

Insgesamt werden in Solodbum 108 Musiker oder Bands erwähnt. Bei der neutralen Nennung bleibt es allerdings in keinem der Fälle, immer bezieht der Ich-Erzähler in Stil- und Geschmacksfragen dezidiert Stellung. Seine Favoriten sind dabei Oasis und \ die Pet Shop Boys. Von ersteren ist an sechzehn Stellen im Buch die Rede, letztere werden siebenmal genannt.’ Der Ich-Erzähler ist begeisterter Fan, er kauft seltene Vinyl-Pressungen, obwohl er keinen Plattenspieler besitzt, und reist zur Veröffent- lichung einer neuen Oasis-Single eigens nach England. Die im Buch genannte Musik kann dem kundigen Leser also zunächst einmal dazu dienen, die Hauptfigur und seine Lebenswelt zu charakterisieren. Zudem liefert sie eine Identifikationsmöglich- keit.

Ebenso sehr werden über Musik auch die Nebenfiguren bzw. die Einstellung des Protagonisten ihnen gegenüber beschrieben. In amüsanter Überspitzung wird geschildert, wie schnell und umfassend der Ich-Erzähler polemisch vom Musik- geschmack auf kleinste Details der Persönlichkeit Rückschlüsse zieht oder wie er umgekehrt aus Redewendungen oder Kleidungsauffälligkeiten die favorisierten Gruppen der Beobachteten zu erkennen glaubt. Dabei entscheidet der Musik- geschmack rücksichtslos über Verachtung:

_I_~~” ~-“--l-l... _,” ; _- 7 Stuckrad-Barre, Remix, S. 3. Zudem veröffentliche Stuckrad-Barre jüngst eine Autodiscugraphie be-

titelte CD-Compilation mit Pop-Songs, die sein Leben begleitet haben. 8 Bei diesen Zahlen verlasse ich mich auf Helmut Obst, Der deutsche Pep-Roman und die Postmoderne

seit 1990. Dargestellt an Erzählprosa von Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und Benjamin Lebert, Diplomarbeit (Studiengang öffentliche Bibliotheken), Hochschule der Medien, Stuttgart 2002, s. 31.

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Wenn man sie morgens in der Bahn sieht, die Eiligen, die kaum älter sind als ich, so - dicht aneinander gedrängt, im Cocktail aus Schweiß und brünftigen Rasierwässer-

chen die Pest der Gemeinschaft inhalierend - dann weiß man ja, daß sie keine Oasis- Platte kennen, nur »Wanderwall« vom Kuschelrock-Sampler. Und Jungs mit Kuschel- rock-sampler kuscheln garantiert nicht. Und wenn, dann macht die Frau eine Lehre und will schon bald ein zweites Sofa und ein erstes Kind und Marmelade einmachen oder wenigstens zu viert in den Urlaub oder am Fenster säuselnd, in den Himmel guckend den Jahreswechsel »ganz gemütlich« begehen.’

oder Sympathie:

Man, ist die großartig. Sieht sehr prima aus und redet schlau daher, so scheint es, und jetzt pfeffert sie ihre Tasche in die Ecke, [ . . .] und sie fragt nach Bier und dreht die Musik: lauter. Das gibt es gar nicht. Sie singt mit. Sie kennt »Everything Must Go«, die neue von den Manie Street Preachers. Lang ist die noch nicht draußen. Und sie singt nicht (wie Jungs es allzu oft tun) ausschlieI3lich, um irgendwas zu zeigen, Kompetenz und Ausschluß der doofen Masse, neinnein, sie mag die Musik und summt und singt, dabei redet sie und trinkt und macht den obersten Hosenknopf auf, sie ist groß- artig.

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Diese Distinktion durch »Kompetenz« mit dem Ziel des »Ausschluß der doofen Masse«, zu deren Zweck die Musik in dem Roman sehr häufig eingesetzt wird, funk- tioniert mit noch sehr viel subtileren Abstufungen als in den zitierten Beispielen.

11 »Frauen, die Blur noch nicht mal auf Kassette besitzen, sind keine tollen Frauen« , aber auch, wer die Vorlieben des Erzählers teilt, wird nicht automatisch verehrt, denn es gibt »feine Unterschiede«:

Immerhin hat sie beide Oasis-Platten und auch ein recht schönes Liam-Poster in der Küche hängen, daran erinnere ich mich gut. Ich war ja nur zweimal bei ihr. Allerdings ist es so ein blödes Stadtfest-Poster, kein Original-Tourposter oder so. Aber der Wille ist da.

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Stuckrad-Barre beschreibt hier treffend, wie das Wissen um Insider-Details in Jugend- szenen als kulturelles Kapital funktioniert, das über soziale Zugehörigkeiten und Hie- rarchien entscheidet. Man findet und repräsentiert die eigene und die Gruppen- Identität über ästhetische Entscheidungen (die zwei besten Freunde des Protagonisten sind ebenfalls Oasis-Fans). Problematisch wird es nur, wenn die falschen Leute die richtige Musik hören, denn dann muß der Geschmack revidiert werden. Es entsteht das »gymnasiale Abgrenzungsproblem« 13, das Stuckrad-Barre in Tristesse Royale einge- hender analysiert:

9 Stuckrad-Barre, Soloalbum, S. 47. l” Ebd., S. 75 f. l1 Ebd., S. 212. l2 Ebd., S. 181. l3 Ebd., S. 211.

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Pop basiert gleichzeitig auf dem Prinzip des Ausschließens und des Konsenses. [. . .] Als Hippie wurde man naturgemäß sagen: Wie schön, daß die ausgezeichnete Band Kruder & Dorfmeister jetzt endlich einmal Erfolg hat. Aber wenn der Golffahrer schon damit anfängt, die gleiche Musik wie ich zu hören, wäre es ja nicht abwegig, daß wir auch ansonsten einiges gemeinsam haben, und deshalb wende ich mich dann von dieser Musik ab. Denn für den Lebensstil des Golffahrers möchte ich mich mit der Musik nicht entscheiden müssen, also für Kenwood;4Autkleber und Mobiltelefone am Gürtel. Das lehnt man ja ab. Kategorisch. Schwierig.

Angesichts der tatsächlich hohen Bedeutung, die Musik-Vorlieben für die beschrie- benen sozialen Prozesse haben, sind die polarisierenden Beurteilungen von bekannten Bands und deren Fans nicht nur auf der Ebene der Fiktion sondern auch für die Realität bedeutsam: Der Autor nimmt in Kauf, daß man die Urteile seiner Romanfigur für seine eigenen hält, so daß man sich als Leser beleidigt oder zur Identifikation einge- laden fühlt. Dies mag zum einen zu einer besonderen Leser-Bindung, zum anderen zum bewußten Ausschluß eines großen Leserkreises (auch derer, denen die musika- lischen Signifikanten nichts sagen) fuhren, womit sich wiederum der Distinktionswert des Buches für seine Leser erhöht.

Neben der Charakterisierung bzw. Bewertung von Individuen und sozialen Gruppen illustriert und intensiviert der Autor auch Situationen, Atmosphären und emotionale Stimmungen durch die Musik, die er seine Figuren hören läßt. Wie in Kinofilmen wird in depressiven Momenten traurige Musik gehört, in euphorischen Situationen muß es rocken:

Nachdem ich seinen Akademieschnöselelektrodreck eine Weile angehört und mehr- mals ergeben »cool« gezischt habe, ist nun Zeit für die großen Hymnen, ich bin ein wenig angetrunken, und da müssen Gitarren ran, alte schöne Platten [. . .], der Abend ist erst mal gerettet. 15

Dabei wird der »Akademieschnöselelektrodreck«, den der Freund ausgewählt hatte, um, wie der Protagonist mutmaßt, »erwachsen zu spielen« und ein »aufregendes Leben zu simulieren« 16, um also Distinktion zu betreiben, mit den angebotenen Getränken -

l4 Stuckrad-Barre in: Bessing (Hg.), Tristesse Royale, S. 27. Somit kommt der Popmusik bei Stuckrad- Barre dieselbe Funktion zu, die bei Christian Kracht die Mode übernimmt. Auch in Hornbys High Fidelity wird soziale Distinktion vor allem durch Popmusik erreicht. Während Stuckrad-Barre solches Verhalten in Soloalbum aber wertfrei beschreibt und es in Tristesse Royale argumentativ unterstützt, rückt Hornby davon ab, wie er in einem Interview erklärt, das Stuckrad-Barre mit ihm noch vor seiner literarischen Karriere als Redakteur des Rolling Stone geführt hat: »Ein wenig muß ich mich vom Protagonisten distanzieren, aber früher habe ich durchaus auch so gedacht. Rob Fleming merkt ja im Verlauf der Handlung auch, daI3 es Dinge gibt, die noch wichtiger sind als eines Menschen Plattensammlung; ich karikiere die Männer, die an einer Plattensammlung den Charakter einer Person definitiv festmachen.« Hornby in: Benjamin von Stuckrad-Barre, Van Hit-Jägern und Platten- Sammlern. Der britische Schriftsteller Nick Hornby kennt sich gut aus in der Welt der Musikverrückten - er ist nämlich selber einer, in: Rolling Stone (dt.) Nr. 19 (Mai 1996), S. 22-23. Zu einer solchen Einsicht läi3t Stuckrad-Barre seine Hauptfigur bewuI3t nicht kommen.

l5 Stuckrad-Barre, Soloalbum, S. 74. l6 Ebd.

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zunächst ein vornehmer Martini-Cocktail, der zu den modernen Platten, den fran- zösischen Zeitschriften und dem chicen Ambiente paßt -, parallel geführt: »Wir trinken weiter, jetzt, da die Gitarren einmal lärmen, ist es wohl auch o. k., wenn ich den Zahn- stocherscheiß stehen lasse und Bier trinke.«17 Hier wie an anderen Stellen mokiert sich der Ich-Erzähler über genau solche Distinktionsbemühungen, die er selbst auch ständig unternimmt - ein kalkulierter Widerspruch, über den später noch zu sprechen ist.

Stuckrad-Barre verzichtet auf wortreiche Beschreibungen der Stücke, mit denen er Korrespondenzen von Musik und geschilderter Atmosphäre erreichen will. Er setzt die Songs als bekannt voraus und erreicht auf diese höchst effiziente, wenngleich alles andere als subtile Methode durch bloße (auch gehäufte) Nennung von Musikern, Titeln oder kurzen Textzitaten lebendige, gut nachvollziehbare Charakterisierungen von Situationen?

Wieder im Hamburger Hauptbahnhof kaufe ich die Radiohead-Platte mit »Creep« drauf [ . . .] . Ich höre das Lied den ganzen Tag lang und fühle mich auch so.19

Ein solches Verfahren kann nur funktionieren, sofern eine genügend große Leserschaft mit den genannten Titeln vertraut ist. Die Wahl von Beispielen aus dem Popmain- stream garantiert dies (zumindest im Hinblick auf die junge Zielgruppe) wie kein zweites kulturelles Produkt.

Die Personen- und Situationscharakterisierung durch Musik ist in der Literatur kein auf3ergewöhnliches Verfahren. Selten wird es allerdings (selbst im Kontext der jüngeren Popliteratur) so extensiv, kenntnisreich und lesergruppenspezifisch eingesetzt, selten dient Musik auch so stark der Gliederung, der Handlung und dem Ansprechen speziel- ler Zielgruppen. Origineller und damit noch interessanter ist allerdings Stuckrad- Barres Einsatz von Musik als Paradigma für bestimmte Lebenshaltungen, von dem die beiden folgenden Abschnitte handeln.

Stuckrad-Barres Musikästhetik: Die Unerträglichkeit des Rock

Um die Musikästhetik zu verstehen, mit der der Ich-Erzähler sich identifiziert, ist es hilfreich, sich ihr zunächst einmal von den musikalischen Feindbildern her zu nähern. Besonders ablehnend steht der Protagonist (neben Musikern wie Pur, Wolfgang Petry oder Modern Talking, die kein Mensch in Stuckrad-Barres Alter hören kann, der sich als cool und intelligent präsentieren will) Bruce Springsteen, Neil Young, Rage against the machine, Pearl Jam, U2 und den Toten Hosen gegenüber, ohne dabei jemals Argu-

7Ebd. l8 Dies beginnt bereits bei den als Kapitelüberschrift dienenden Songtiteln, die in einigen Fällen die

emotionale Stimmung des folgenden Textes ankündigen (Don’t Look Back in Anger, It’s Getting Betier (Ahn!!)).

l9 Stuckrad-Barre, Soloalbum, S. 117.

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mente zu nennen. Gemeinsam ist allen, daß sie sich und ihre Musik sehr ernst nehmen, sich politisch äußern und ihre Musik als Möglichkeit sozialen Engagements ansehen. Sie gelten gemeinhin als authentisch, man glaubt also, daß sie ihre Kunst aus Berufung und Leidenschaft ausübten, daß sie ,ihren Wurzeln treu‘ blieben, Distanz zu Industrie und Markterfordernissen wahrten, daß ihre Musik ,ehrlicher‘ Ausdruck ihrer besonderen Persönlichkeit sei. Genau dies sind die Werte, mit denen sich seit den späten 1960er Jahren die ,künstlerische‘, ,gegenkulturelle‘ Rockmusik (wie sie Brink- mann favorisierte) von der als kommerziell, unehrlich und oberflächlich verurteilten Popmusik abzugrenzen versucht. Für Stuckrad-Barre (hier darf man, wie sich zeigen wird, die Stimme des Ich-Erzählers mit der des Autors gleichsetzen) ist dies die Musik der Elterngeneration und der in vielen Texten parodierten Hippies. Statt ihrer folgt er einer sich seit den frühen 1980er Jahren verbreitenden Pop-Ästhetik, die die Rock- Ästhetik angesichts neuer Technologien, der Allmacht musikindustrieller Einfluß- nahme und der sozialen wie wirtschaftlichen Etablierung der ehemals Gegen- kulturellen als heuchlerisch und veraltet kritisiert. Oder wie Stuckrad-Barre in einem Ich birt kein Rockist betitelten Interview formuliert: »Eine Band, die heute Gitarren benutzt, braucht einen guten Grund.«20

In Tristesse Royale steht diese Rockmusik paradigmatisch für »die Sehnsucht nach Ehrlichkeit«21, für »Eigentlichkeit« und »klare Positionierung auf festem Grund« 22 , für die »Angst, daß alles so bleiben soll, wie es ist, wie es gut ist«.23 Besonders gehässig führt Stuckrad-Barre all die verachteten Rock-Werte in seiner Rezension des Romans Der Boden unter ihren Fiiaen (1999) vor, den Salman Rushdie in der Rockszene spielen läßt:

, Als Kind hat Rushdie Luftgitarre in Bombay gespielt, er liebt schnelle Autos, und wahrscheinlich steht er in Rockkonzerten am Tresen, trägt ein »Hard-Rock-Cafe- Bombay«-T-Shirt, schnauft und schreit, bis ihm die Brille beschlägt [. . .]. Daß Rushdie verklärt über Musik und deren Attitüde denkt, die der Soundtrack seiner Adoleszenz war, ist logisch; doch statt die dieser Musik zuhauf anhaftenden Klischees einer neuen Idee zu unterstellen, fällt Rushdie komplett darauf hinein. [, ..] Sein rockistisches Vokabular gereichte einem Jon Bon Jovi zur Ehre, und so lesen wir von »Monster-Riffs«, »wahnsinnigen Schlagzeugern« und »konkurrierenden Gitarren« [. . .]. Doch an die revolutionäre Kraft von Rock glaubt auch Rushdie immer noch, gibt jedoch kleinlaut zu Protokoll, mit neuer Musik bei allerbestem Willen nichts

2o In: Lars Christiansen/Uli Seiter, Ich bin kein Rockst, in: WOMJournal Nr. 209 (Januar 2002), S. 22-25. Zur Unterscheidung dieser zwei Wertsysteme vgl. Simon Frith, Art Ideology and Pep Pructice, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.), Murxism and the Interpretation of Culture, Houndmills 1988, S. 461-475.

21 Christian Kracht in: Bessing (Hg.), Tristesse Royale, S. 139. 22 Baßler, Der deutsche Pep-Roman, S. 133 u. 124. 23 Eckhart Nickel in: Bessing (Hg.), Tristesse Royale, S. 140.

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anfangen zu können. [. . .] Er, so Rushdie, er und die Rockmusik seien eben gemein- sam alt geworden - was romantisch klingt, aber Unsinn ist: Bloß der Rock, den er kennt, d;; ist alt geworden, manch anderer Rock handelt von Erneuerung und Zer- störung.

Somit ist es nur konsequent, wenn Stuckrad-Barre ausgemachte Pop-Phänomene wie die Spiee Girls, Whitney Houston oder die Teenie-Gruppe Echt lobt und prinzipiell nichts gegen Casting-Shows im Fernsehen einzuwenden hat. Sein Herz (und das seines Ich-Erzählers) aber schlägt für Oasis und die Pet Shop Boys.25

Dabei ist die Vorliebe für die Pet Shop Boys sehr gut aus den aufgezählten Abneigungen zu erklären. Fast spiegelbildlich zur Kritik an Rushdie formuliert Neil Tennant (Sänger und Texter des Duos) voller Ironie seine Einstellung zur Musik:

Ein neues Stück entsteht, wenn Chris Lowe und ich zusammensitzen und eine Tasse Tee trinken, und das passiert fast jeden Tag. Wir schreiben Hits. Wir machen Pop- musik. Die Pet Shop Boys soll man im Radio hören. Vier von bisher sechs Pet-Shop- Boys-LPs gingen in England auf Platz 1 der Charts. [. . .] Darum geht es. [ . . .] Wir benutzen lieber Maschinen als Gitarren. Eine E-Gitarre finde ich vollkommen lächerlich. Ich hasse Rockmusik. Auf Dauer sind zwei Plattenspieler und ein Misch- pult aufregender als fünf [sic] Gitarrensaiten. [. . .] Wir rauchen nicht. Wir trinken selten Alkohol, wenn, dann nur Champagner. Wir halten Autos für Motorräder und andersrum, und eine blonde Frau mit großen Brüsten kann mir immer wieder ganz schön einen Schrecken einjagen. [. . .] Ich fürchte mich vor Fußballfans.

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Dementsprechend wurden die Pet Shop Boys auch nicht wie Rushdie schwitzend an der Bar oder wie Springsteen schwitzend auf der Bühne stehen. Sie tragen bei ihren Auftritten stilvolle Anzüge oder absurde Verkleidungen, sofern sie überhaupt live auf- treten, was sie im ersten Jahrzehnt ihrer Karriere nicht getan haben (»It’s kinda mache nowadays to prove you tan tut it live. 1 quite like proving we can’t tut it live. We’re a

J pop group, not a rock and roll group«27). Diese Ästhetik beschränkt sich keineswegs auf den außermusikalischen Bereich, am deutlichsten wird sie in ihren ironischen Cover- Versionen von Songs aus dem Rock-Genre: Elvis Presleys einfühlsames Liebeslied Alwuys On My Mind interpretieren sie als schnelle, bombastische House-Nummer mit Kuhglocken und emotionslos vorgetragenem Gesang. Das sorgsam arrangierte, mit viel Gefühl gesungene Where The Streets Have No Name der ernsthaften, weltpolitisch engagierten und religiösen U2 verbinden sie mit Cun’t Take My Eyes Off Of You (zuvor

24 Stuckrad-Barre, Rem& S. 69-76. 25 Ein letztes Indiz für die Gleichsetzung der Vorlieben von Ich-Erzähler und Autor: Wer im März 2004

wwwstuckrad-barre.de besuchte, wurde von einem Foto begrüBt, auf dem der Autor eine LP der Pet Shop Boys in die Kamera hält. In zahlreichen Interviews lobt er zudem die hier genannten Bands.

26 Neil Tennant in: Moritz von Uslar, Wir haben prima Laune. Aber wir sind nicht geisteskrank, in: Südde&sche Zeitung Magazin vom 21.01.1994, S. 18-22, hier: S. 22.

27 Neil Tennant in Andrew Goodwin, Sample und hold. Pop Music in the Digital Age of Reproduction, in: Criticul Qmrterly 30:3 (19SS), S. 34-49, hier: S. 44.

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von Frankie Valli als Teen-Pop Ballade, von der Boys Town Gang als Disco-Stück inter- pretiert) zu einem überaus weltlichen Dance-Medley. Dabei bekommt das Lied einen homosexuell zu deutenden Subtext, der sich übrigens in vielen ihrer Stücke nachweisen läßt.28

Nun haben Oasis und die Pet Shop Boys musikalisch allerdings rein gar nichts gemein. Oasis spielen in klassischer Rockbesetzung, orientieren sich in Harmonik, Songaufbau, Melodik und Instrumentierung stark an Prototypen klassischer Rock- musik und präsentieren sich als biertrinkende, fußballiebende, spaß- und streitsüchtige Radaubrüder. Was ist also der gute Grund, aufgrund dessen unser Autor ihnen erlaubt, Gitarren zu benutzen?

Wie die Pet Shop Boys reagieren Oasis mit ihrer Musik auf die übermächtige Bedeutung der kanonisierten Helden der späten 1960er Jahre. Während sich die Pet Shop Boys aber (typisch für die 1980er Jahre) konsequent durch Ablehnung positionieren, plündern Oasis (typisch für die Retro-Trends seit den 1990ern) das Rock-Erbe willkürlich für ihre eigenen Zwecke. Sie zitieren und kopieren Versatzstücke und bekennen sich »in einer Zeit der verlorenen Unschuld« offen zu diesem Verfahren (das man im Sinne Umberto Ecos, weniger aber dem allgemeinen Sprachgebrauch nach als ironisch bezeichnen könnte).29 So beginnt Don’t Look Back In Anger mit den Akkorden von John Lennons Imugine, ohne sich inhaltlich auf das politische Stück zu beziehen, All Around The World ist offensichtlich an Hey Jude von den Beatles ange- lehnt. Be Here New, der Titel der dritten CD der Band zitiert einen berühmten Len- non-Ausspruch, so wie das Album-Cover zahlreiche Verweise auf The Who und The Beatles in sich birgt3’ Bei aller musikalischen Vergangenheits-orientierung über- nehmen Oasis aber nie die von Stuckrad-Barre als Ideologie kritisierten Aspekte der Rock-Ästhetik. Sie engagieren sich nicht politisch, glauben nicht an Rock als Gegen- kultur, halten sich nicht für genialische Künstler, die außerhalb der Gesellschaft stehen und gar nicht anders können, als ihre besondere Persönlichkeit ohne kommerzielles

28 Vgl. Mark Butler, Tuking it seriously: intertextuality and authenticity in two covers by the Pet Shop Boys, in: Pupt&- Music 22:l (2003), S. l- 19; vgl. auch Ian Balfour, Queen Theory: Notes on the Pet Shop Boys, in: Roger Beebe/Denise Fulbrook/Ben Saunders (Hg.), Rock Over the Edge. Transformations in Popular Music Culture, Durham/London 2002, S. 357-370.

29 Umberto Eco, Postmodernismus, Ironie und Vergnügen, in: Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne, S. 75-78, hier: S. 76. Ironisch bedeutet in diesem Sinne nicht, daß Oasis nicht vollständig hinter dem stünden, was sie verkörpern.

3o So hat z.B. der in einem Swimmingpool versenkte Rolls Royce das gleiche Nummernschild wie ein Auto auf dem Abbey Road-Cover der Beatles. Im Song D’You Know Hat 1 Mean werden die Beatles- Titel The Fool On The Hill und 1 Feel Fine innerhalb von einer Textzeile genannt, ohne daI3 dafür ein anderer Grund als der Wille zum Zitieren ersichtlich wäre. Das Album endet mit verhallten Schritten und einer zuschlagenden Tür: dem Beginn des Songs We Love You der Rolling Stones, bei deren I’m Free sie wiederum tüchtig für Whatever geklaut haben. Fade Away übernimmt die Strophe von Wham!‘s Freedom, Cigurettes Q Alcohol borgt bei T.Rex’ Get It On. Die Beispiele könnten endlos wei- tergeführt werden,

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Interesse zum Ausdruck zu bringen. * Statt dessen sehen sie ihre Musik als bloße Unterhaltung und stehen zu ihren finanziellen Interessen:

What else is there? 1 get the money, you get the records. That’s the deal. We wanted any- body to listen to our records and still do. [. . . ] 1 don’t really like to write about anything too personal in the music, ‘Cause 1 feel that that’s private and the music should be enter- tainment. I’m certainly not the kind of person that would sit down and discuss my Problems with the general public. We make Party music anyway, it’s not therapy.31

Um Stuckrad-Barres Musikästhetik zusammenzufassen, kann sie vorerst unter Vorbehalt mit dem Begriff Postmoderne in Verbindung gebracht werden. Aus dieser Perspektive interpretiert, sind die Pet Shop Boys und Oasis uneigentliche ,Post‘-Bands, die ohne den Bezug auf die klassisch gewordenen Erneuerer der vorangegangen Generation nicht denk- bar sind und deren Musik daher (ähnlich der postmodernen Architektur) zitathaft und auf verschiedene Art ironisch mit ,verbrauchtem‘ Material spielt, die sich um Popularität bemühen und kommerzielle Interessen offen eingestehen, die aber andererseits den (modernen) moralisch rigorosen Ansprüchen nach Aufklärung und Wahrhaftigkeit nicht mehr ohne weiteres folgen können und wollen. Die Pet Shop Boys übernehmen dabei den Part der intellektuellen »Doppelagenten« (Fiedler), die lyrische Qualität, avantgardistische Musikvideos, ironische Gesellschaftskritik oder homosexuelle Emanzipation mit ein- gängigen Disco-Stücken verknüpfen und dementsprechend unterschiedliche Zielgruppen ansprechen. In diesem Sinne schaffen sie Pep-Art, so der Titel einer aktuellen Compi- lation. Mit Oasis dagegen kann man sich von Intellektuellen hervorragend abgrenzen (Stuckrad-Barre lästert in seinen Texten immer wieder über Studenten). Sie stehen abge- sehen von allen postmodernen Merkmalen (durch die sie sich für Stuckrad-Barre legitimieren) auch für das Verlangen nach ironiefreier Unmittelbarkeit, für Spafi und kompromißloses Fan-Sein, für »Prellerei und Do?enbier und überhaupt auch Schweinerock«32, für Coolness und Arroganz, für angenehmen Zeitvertreib ohne mit- gelieferte Ideologie: »Großartige Jungen-Band; haben nichts zu sagen, aber das sagen sie laut«.33

Stuckrad-Barres Literarästhetik: Die Unerträglichkeit der Ironie

Parallel zu den postmodernen Tendenzen in der bevorzugten Musik ließen sich problemlos Merkmale des Postmodernen in Stil und Inhalt von Stuckrad-Barres Texten finden.34 Das

31 Noel Gallagher, Hauptkomponist der Band, in der TV-Sendung Music Planet 2nite, gesendet auf arte am 23. April 2002,23.15-0.00 Uhr.

32 Stuckrad-Barre, Soloalbum, S. 243. 33 Silke Schnettler, Mein Bauch ist der Nabel der Welt. Benjamin von Stuckrad-Barre macht in einem

Roman allein Musik und sorgt sich um seine schlanke Linie, zit. n. http://www.welt.de/daten/l999/01/09/01091w58786.htx, (Zugriff am 01.06.2004).

34 Vgl. Carsten Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur, in: Text + Kritik Sonder- bund Popliteratur (München 2003), S. 234-257; Thomas Jung, Die Geburt der Popliteratur aus dem

R. v. Appen: »Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und Ironie« 163

Spiel mit Zitaten, Intertextualität, das Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion sowie zwischen verschiedenen Textgattungen, das Interesse am Beschreiben von Oberflächlichem, das Nebeneinander von elaboriertem Stil und Comic-Sprache, die enge Kooperation mit der ,Kulturindustrie‘, insbesondere aber der in Soloalbum beschriebene Mangel an moralischer Orientierung, eigener Identität und eigenem Standpunkt des Protagonisten (die man häufig blind auf den Autor überträgt) werden als Argumente für die Postmodernität Stuckrad-Barres angeführt und oft zugleich als Aufhänger für ver- nichtende Kritik genutzt:

Nichts gilt mehr in diesem Buch, sogar die Feststellung, daf3 nichts mehr gilt. [. . .] Was sich ironisch gibt und sich sogar selbst als von Stereotypen geleitet zu kritisieren vorgibt, ist unter seiner metareflexiven Hülle eine reaktionäre Tirade ohne eigenen Standpunkt.35

Joachim Bessing, Benjamin von Stuckrad-Barre und die anderen Hardcore-Popliteraten geben in ihren Gesprächen in Tristesse Royal [sic] denn auch zu erkennen, daß man an den klassischen ethischen Werten einer Aufklärungstradition nicht mehr interessiert ist. Man hat sich, auch als Künstler und Literat, in das Ghetto der postmodernen Beliebig- keit - um nicht zu sagen Indifferenz - zurückgezogen und gibt sich überzeugt antiauf- klärerisch. Letzteres impliziert eine antiemanzipatorische und in gewissem Sinne ant- isolidarische Grundhaltung, die die Literatur nurmehr als zirzensische Selbst- bespiegelung und letzten Ende [sic] als Vermarktungsoption instrumentalisiert.36

Doch unabhängig von der Frage nach der Postmodernität hat, wer Stuckrad-Barre für indifferent, affirmativ oder gar antiaufklärerisch hält, dessen Absicht nicht verstanden. Er übt schlicht eine andere Form der Kritik, eine Form, die sich bewußt vom offenen Pro- test (häufig verbunden mit erhobenem Zeigefinger) der Eltern-/ 1968er-Generation abgrenzt. So antwortet er im Gespräch mit Walter Kempowski auf dessen Frage, ob er ein Moralist sei, ob er aus einer Art Verzweiflung heraus schreibe, weil er sich die Welt besser vorstelle, mit Worten, die Adornos hätten sein können: »Unbedingt. Das Nichteinver- standensein ist ein Hauptauslöser.« 37 Und in Tristesse Royale stellt er, nachdem er seine künstlerisch, nicht inhaltlich begründete Abneigung gegenüber »explizite [ r] Form von politischem Protest«38 zum Ausdruck gebracht hat, der Runde die Frage, ob »es dann

--l”~--- ,-c In Geiste von Mozart und MTV Anmerkungen zu Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum, in ders. (Hg.), Alles nur Pop?Anmerkungen zurpopulären und Pep-Literatur seit 1990 (Osloer Beiträge zur . Germanistik Bd. 32), Frankfurt/M. 2002, S. 137- 156.

35 Mathias Mertens, Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre und ihre mutmaJ3lichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby, in: Text + Kritik Sonderband Pop- literatur (München 2003), S. 201-217, hier: S. 211.

36 Thomas Jung, Vom Pep international zur Tristesse Royal [sic]. Die Popliteratur, der Kommerz und die postmoderne Beliebigkeit, in ders. (Hg.), Alles nur Pep?, S. 29-53.

37 Stuckrad-Barre in: Adrian0 Sack, Wahrheit als Dichtung. Zwei deutsche Chronisten über ihr Land: Walter Kempowski, 73, und Benjamin von Stuckrad-Barre, 27, über die tägliche Bilderflut, die Suche nach Moral und den Verwandlungskünstler Gerhard Schröder, in: Welt am Sonntag vom 27.01.2002, zit. n. http://www.stuckrad-barre.de/bvsb/presse.html#, (Zugriff am 30.01.2004).

s8 Stuckrad-Barre in: Bessing (Hg.), Tristesse Royale, S. 107.

164 R. v. Appen: >>Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und I-roniea

. noch nötig und möglich [sei], sich in Wort oder Ton politisch zu artikulieren«, worauf er selbst antwortet:

Politische Witze, in der Form, wie sie etwa Harald Schmidt zu machen versteht, bleiben für mich allerdings nötig. Er ist ein großer Aufklärer. [ ,..] So ist dann politisches Witzemachen möglich; also in der Verweigerung des Kommentars. Ledig- lich im Abbilden von dem, was wir sehen.39

An anderer Stelle konkretisiert er, daß ihm dies auch als Ziel seiner schriftstellerischen Arbeit vorschwebt:

Ich möchte weg von den Meinungstexten, das ist langweilig und doof. Ich beschreibe lieber, was ich sehe, und lasse das dann für sich sprechen. Meine Aufgabe als Autor ist eigentlich nicht das Schreiben, sondern vielmehr das Sammeln. [. . .] Ich halte es mit Heiner Müller: Alles ist Material. Ablauschen, aufschreiben, kommentarlos verlesen. Leute über ihre Sprache zu charakterisieren, verrät mehr über Sozialverhalten, Bildung und Interessen als Beruf, Frisur und Kontostand. Die Wahrheit ist md;ist grauselig. Ich begreife die Welt nicht, also beschreibe ich sie lieber bruchstückhaft.

Nach genau diesem Prinzip verfährt der Autor in Soloalbum, wo er minutiös beschreibt und pausenlos kritisiert, aber nie explizit einen konstruktiven Standpunkt bezieht, sondern ganz offensichtlich vieles, worüber er spottet, wenige Seiten später an sich selbst ironisch aufdeckt (»mit unserem Tun haben wir uns doch alle vollkommen der Ironie unterworfen«41). Dabei gibt es viele Momente, in denen (über-) Affirmation ironisch als »Abgrenzung von der orthodoxen Protestkultur« eingesetzt wird. Eigentlich kann Stuckrad-Barre diese »Ironie-Industrie«42 aber nicht mehr ausstehen, wie er in Tristesse Royale und dem aus dem gleichen Jahr stammenden Text Ironie bekennt:

39 Ebd., S. 108. Vor seiner schriftstellerischen Karriere hatte Stuckrad-Barre als Gagschreiber für die Harald-Schmidt-Show gearbeitet. Er berichtet davon in Rem& S. 59-68. Analog he& es dort über Schmidts Interviewstrategie: »Am Ende ist es böser - und zugleich aufklärerischer -, jemanden ein- fach reden zu lassen, statt ihn penetrant mit seiner Stasi-Akte vor der Nase rumzuwedeln. Denn da hätte der Fernsehzuschauer nur Mitleid mit dem schwitzenden Befragten, und die intendierte Wirkung verkehrte sich ins Gegenteil.« (ebd., S. 64)

4O In: Frank Frey, )jJeder Depp hat ein Buch «. Pop-Poet Benjamin von Stuckrad-Barre geht nicht über Los, sondern begibt sich direkt in die Scheipe, in: Unicum 12/1999, zit. n. http://www.unicum.de/archiv-u/u- 12-99/ccl-1299.htm (Zugriff am 17.05.2004).

41 Stuckrad-Barre in: Bessing (Hg,), Tristesse Royale, S. 146. 42 Dirk Frank, Die Nachfuhren der ‘Gegengegenkultur: Die Geburt der »Tristesse Royale« aus dem Geiste

der achtziger Jahre, in: Text + Kritik Sonderband Popliteratur (München 2003), S. 218-233, hier S. 219 u. 223. An anderer Stelle heißt es dort: »Wer sich in den späten achtziger Jahren die real erlebten oder auch nur vom Hörensagen bekannten Betroffenheits- und Engagiertheits-Diskurse der sechziger und siebziger Jahre sprachlich vom Leib halten wollte, reagierte darauf mit Anti-Hippie-Witzen, politischen Unkorrektheiten oder einer Parodie des alternativen Jargons« (ebd., S. 222) - all dies findet man bei Stuckrad-Barre, der von sich sagt, er sei »friedensbewegt aufgewachsen«, habe »zutiefst sozialdemokratische Eltern« (Bessing (Hg.), Tristesse Royale, S. 104) und sich seinen »korn- munistischen Kunstlehrer [. . .] mit neokonservativem Spott vom Leib« gehalten (ebd., S. 122).

R. v. Appen: »Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und Ironie« 165

Die Ironie wurde uns noch umbringen. Inzwischen war ja jedermann ironisch, man bekam [. . .] nur noch ironische Auskünfte. Wäre das Leben eine Bruchzahl, dann würde man all die Ironie unterm und überm Strich einfach wegkürzen können, um danach etwas klarer zu sehen.43

Generell möchte ich feststellen, daß Selbstironisierung immer schlechte Produkte zur Folge hat. Selbstironisches Musikmachen oder Anziehen sind möglicherweise immer noch erklärbar, aber nie wieder gut.

44

Letztlich wird das ständige Ironisieren aller Aussagen zur ebenso unerträglichen Alternative erklärt wie der Rock, die »obsolet gewordene Eigentlichkeit(q4’, von der man sich damit abzugrenzen versucht. Aus dem Dilemma von Rock und Ironie führe aber, so die Autoren, kein Weg hinaus; man wolle sich für keine der beiden Grundhaltungen ent- scheiden, doch eine dritte gäbe es nicht:

du wirst deinen eigenen Gefühlen gegenüber eine ironische Haltung einnehmen, um dir selbst nicht unangenehm zu werden, nicht mit dir selbst in einen Konsens zu geraten. Oder du begibst dich in die Mühlen des Rock, dann kannst du ewig leben oder zumindest eine für dich nachvollziehbare Existenz führen. Das ist doch eine Spirale, die schlimmer niemand schauen könnte. [. . .] Jetzt mochte ich wissen: Wer von uns entscheidet sich für die komplette Ironisierung, wer für den Rock?46

Schaut man auf Stuckrad-Barres Texte, so scheint er seinen Umgang mit diesem Dilemma eben darin zu sehen, auf jegliche Entscheidungen und eindeutige Zuord- nungen zu verzichten und dabei die Ironie in späteren Texten zunehmend zu reduzieren. Schon in SoloaLbum bildet er Beobachtetes kommentarlos ab und deckt Widersprüche im eigenen Text offen auf. Diesem oben erklärten Ideal kommt er in Deutsches %ateY7 dann noch näher, indem er das Land und seine Gesellschaft dort ohne Selbstironie anhand akribisch beobachteter Alltagssituationen beschreibt, ohne SchluI3folgerungen zu ziehen. Dieses photographische Verfahren entspringt nicht etwa Affirmation oder Indifferenz, sondern zum einen dem verloren gegangenen Glauben an expliziten Protest (»Ich mische mich durch meine Arbeit ein, das reicht ja voll- kommen, so Stellung zu beziehen. Da muss ich nicht auch noch ,Willy wählen’ drun- terschreiben, hoffe ich«48), zum anderen einem ehrlichen Kapitulieren vor der zuneh- menden Komplexität der Welt (»Die Menschen, die lässig drüber stehen und zu allem gleich eine Meinung haben, sind mir verdächtig«49). Aus diesen Texten spricht zweifelsohne Nichteinverstandensein, aufklärerischer Anspruch ist durchaus erkenn- 43 Stuckrad-Barre, Rem& S. 84. 44 Stuckrad-Barre in: Bessing (Hg.), Tristesse Royale, S. 29. 45 Baßler, Der deutsche Pep-Roman, S. 133. 46 Bessing in: ders. (Hg.), Tristesse Royale, S. 144-145. 47 Benjamin v. Stuckrad-Barre, Deutsches Theater, Köln 2001. 4s Stuckrad-Barre in: Anne Philippi/Kristof Schreuf, Remix - Remodel. Bücher, die in Mode sind, in:

Rolling Stone (dt.) Nr. 60 (Oktober 1999), S. 77-79, hier: S. 78. 49 Stuckrad-Barre in Sack, Wahrheit als Dichtung, ohne Seitenangabe.

166 R. v. Appen: »Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und-Ironie<<

bar; kritisches Bewußtsein aber muß beim Leser selbst entstehen.50 e

Und um auf die Musik zurückzukommen, in der sich die beschriebenen Probleme so plastisch spiegeln: Auch hier entscheidet sich Stuckrad-Barre nicht zwischen Rock und Ironie. Denn die Pet Shop Boys nutzen Ironie in ihrer Musik, ihren Texten und ihrer Imagekonstruktion durchaus häufig, sie setzen sie allerdings nie ein, um den eigenen Standpunkt zu vernebeln, im Gegenteil: In Songs wie Rent oder Opportunities (Let’s Make Lots Of Money) wird Ironie gerade als Mittel der ernsten Kritik am Thatch- erismus und der übermacht der Ökonomie genutzt51 Und Oasis schaffen die »Qua- dratur des Po~«~~, sie verwandeln das Spiel mit Zitaten in Ernst zurück, sie rocken ohne Rock-Ideologie. Beide Bands sperren sich damit ebenso wie Stuckrad-Barre einer ein- fachen Zuordnung zur Postmoderne. Das dialektische Betonen von Widersprüchen, das Umgehen von Entscheidungen findet sich dementsprechend auch bei ihnen an prominenter Stelle, in den Namen ihrer Alben: So sind fast alle LP-Titel der Pet Shop Boys mehrdeutig - der Titel Bilingual thematisiert dies sogar. Und den Titel von Oasis’ Debütalbum erklärt Stuckrad-Barre in den letzten Worten von Soloalbum zum besten aller Zeiten: Definitely Maybe. i

5o Stuckrad-Barre in: Bessing (Hg.), Tristesse Royale, S. 107. 51 »Da ich das Leben selbst für eine Kette voller Widersprüche halte, die von uns Menschen nie

aufzulösen sein wird, ist klar, daß meine Texte diese Widersprüchlichkeit ebenfalls in sich tragen. Gute Popmusik ist seit jeher eine direkte Reaktion auf die jeweiligen Lebensumstände gewesen. Und da es mir nicht besonders gefällt, was ich um mich herum sehe, reflektiere ich dieses Unbehagen in meinen Texten.« Dies sagt nicht etwa Stuckrad-Barre, sondern Neil Tennant in Michael Fuchs-Gamböck, Gedd’ it?! 66 Rock’n’Roll-Interviews aus 20 Jahren, Berlin 2000, S. 203.

52 Thomas Gross, Pop will eut itself Retrotrends - Musik aus dem Zitat, in: Peter Kemper/Thomas Langhoff/Ulrich Sonnenschein (Hg.), »Alles so schön bunt hier« Die Geschichte der Popkultur von den Fiinfiigern bis heute, Stuttgart 1999, S. 275285, hier: S. 280. Weiter heißt es dort: »Die Band aus Manchester ist ein Paradox der Neunziger: Retro ohne Retro-Geschmack. Sampling ohne Sampler. Konservativ sein auf nichtkonservative Weise. Rock’n’RoU als Easy Listening. Das macht sie so wert- voll - und so konsensfähig.« (ebd.)


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