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Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel, in: E. Otto, Altorientalische und Biblische...

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Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel. Die innerbiblischen Ursprünge halachischer Bibelauslegung I. Problemstellung Die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel ist die Geschichte der Fortschreibun- gen und Revisionen autoritativer biblischer Texte. Tradition, die zur Hebräischen Bi- bel und im christlichen Kanon zum Alten Testament wird, formiert sich inner- biblisch als Fortschreibungsgeschichte von Texten, die in innerbiblischer Exegese ausgelegt und im Vorgang der Auslegung nicht nur aktualisiert und modernisiert wurden 1 . Im Dienste neuer Ideen konnte der ausgelegte Text vielmehr vom auslegenden auch subversiv gegen den im ausgelegten Text intendierten Sinn genutzt werden. Schon spätvorexilisch wurden Prophetenworte in Schülerkreisen verschriftet (cf. Jesaja 8,16) und zu Sammlungen redigiert 2 , die in der Exilszeit als Deuteworte des Leidensschicksals und der neuen Hoffnung „Israels“ fortgeschrieben wurden. Die nachexilischen Redaktionen der Psalmen formten sie zu Gebets- und Meditationssammlungen um und schrieben sie als Reflexionen auf die menschliche Existenz von Klage und Lob vor Gott fort. Die Geschichte der biblischen Traditionsbildung durch die Auslegung verschrif- teter Texte machte aber nicht an den Volks- und Landesgrenzen Halt, sondern schloß eine Fülle ägyptischer, syrisch-mesopotamischer, phönizischer, persischer und hel- lenistischer Überlieferungen ein, um z.B. auf dem Felde der Politik durch die sub- versive Rezeption wie des Krönungshymnus des neuassyrischen Königs Assurbani- pal 3 in Ps 72 4 politische Hegemonialansprüche aus den Angeln zu heben: Statt um die Weltherrschaft wie der assyrische Herrscher sollte der judäische König um Ge- rechtigkeit und Gesetze bitten, womit das Verhältnis des Rechts zur Macht neu defi- niert wurde. In Prov 22-24 wurde die ägyptische Weisheitslehre des Amen-em-ope rezipiert 5 , wobei mit der Art der Rezeption Kritik an der Auflösung von Ordnungs- 1 Cf. als bahnbrechend M. Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford 1985; ders., Inner-Biblical Exegesis, in: M. Saebø (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation I: From the Beginning to the Middle Ages (Until 1300), Göttingen 1996, 33-48. 2 Cf. J. Jeremias, Die Anfänge der Schriftprophetie, ZThK 93, 1996, 481-499. 3 Cf. zu Text und Übersetzung A. Livingstone, Court Poetry and Literary Miscellanea, State Ar- chives of Assyria III, Helsinki 1989, Nr. 11. Zur Interpretation cf. E. Otto, Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient. Aspekte für eine Friedensordnung in der Moderne, Theologie und Frieden 18, Stuttgart 1999, 37ff., sowie in diesem Band, 126-130. 4 Cf. dazu jetzt M. Arneth, „Sonne der Gerechtigkeit“. Studien zur Solarisierung der Jahwe- Religion im Lichte von Psalm 72, BZAR 1, Wiesbaden 2000, 57ff. 5 Cf. D. Römheld, Wege der Weisheit. Die Lehren Amenemopes und Proverbien 22,17-24,22,
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Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel. Dieinnerbiblischen Ursprünge halachischer Bibelauslegung

I. Problemstellung

Die Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel ist die Geschichte der Fortschreibun-gen und Revisionen autoritativer biblischer Texte. Tradition, die zur Hebräischen Bi-bel und im christlichen Kanon zum Alten Testament wird, formiert sich inner-biblisch als Fortschreibungsgeschichte von Texten, die in innerbiblischer Exegeseausgelegt und im Vorgang der Auslegung nicht nur aktualisiert und modernisiertwurden1. Im Dienste neuer Ideen konnte der ausgelegte Text vielmehr vomauslegenden auch subversiv gegen den im ausgelegten Text intendierten Sinngenutzt werden. Schon spätvorexilisch wurden Prophetenworte in Schülerkreisenverschriftet (cf. Jesaja 8,16) und zu Sammlungen redigiert2, die in der Exilszeit alsDeuteworte des Leidensschicksals und der neuen Hoffnung „Israels“ fortgeschriebenwurden. Die nachexilischen Redaktionen der Psalmen formten sie zu Gebets- undMeditationssammlungen um und schrieben sie als Reflexionen auf die menschlicheExistenz von Klage und Lob vor Gott fort.

Die Geschichte der biblischen Traditionsbildung durch die Auslegung verschrif-teter Texte machte aber nicht an den Volks- und Landesgrenzen Halt, sondern schloßeine Fülle ägyptischer, syrisch-mesopotamischer, phönizischer, persischer und hel-lenistischer Überlieferungen ein, um z.B. auf dem Felde der Politik durch die sub-versive Rezeption wie des Krönungshymnus des neuassyrischen Königs Assurbani-pal3 in Ps 724 politische Hegemonialansprüche aus den Angeln zu heben: Statt umdie Weltherrschaft wie der assyrische Herrscher sollte der judäische König um Ge-rechtigkeit und Gesetze bitten, womit das Verhältnis des Rechts zur Macht neu defi-niert wurde. In Prov 22-24 wurde die ägyptische Weisheitslehre des Amen-em-operezipiert5, wobei mit der Art der Rezeption Kritik an der Auflösung von Ordnungs-

1 Cf. als bahnbrechend M. Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford 1985; ders.,Inner-Biblical Exegesis, in: M. Saebø (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament. The History of ItsInterpretation I: From the Beginning to the Middle Ages (Until 1300), Göttingen 1996, 33-48.

2 Cf. J. Jeremias, Die Anfänge der Schriftprophetie, ZThK 93, 1996, 481-499.3 Cf. zu Text und Übersetzung A. Livingstone, Court Poetry and Literary Miscellanea, State Ar-

chives of Assyria III, Helsinki 1989, Nr. 11. Zur Interpretation cf. E. Otto, Krieg und Frieden inder Hebräischen Bibel und im Alten Orient. Aspekte für eine Friedensordnung in der Moderne,Theologie und Frieden 18, Stuttgart 1999, 37ff., sowie in diesem Band, 126-130.

4 Cf. dazu jetzt M. Arneth, „Sonne der Gerechtigkeit“. Studien zur Solarisierung der Jahwe-Religion im Lichte von Psalm 72, BZAR 1, Wiesbaden 2000, 57ff.

5 Cf. D. Römheld, Wege der Weisheit. Die Lehren Amenemopes und Proverbien 22,17-24,22,

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strukturen konnektiver Gerechtigkeit6 in der Weisheit Ägyptens geübt wurde. AlleAspekte der spätägyptischen „persönlichen Frömmigkeit“ in der Lehre des Amen-em-ope, die die „konnektive Gerechtigkeit“ zugunsten einer sich von Recht und Ge-rechtigkeit emanzipierenden individuellen Gottesverehrung „persönlicher Frömmig-keit“ auflösten, wurden judäisch nicht rezipiert. Vielmehr wurde die ägyptischeLehre so ins Hebräische übertragen, daß in Prov 22-24 eine Sentenzenlehre entstand,die der mehr als tausend Jahre älteren altägyptischen Weisheitslehre des Ptahhotepentsprach. Wurde so die konservativ rezipierte Weisheitslehre des Amen-em-ope zurInitialzündung für die judäische Sentenzenweisheit, so holte diese in ihrer Geschich-te bis in die hellenistische Zeit die Problemstellungen und Lösungen der ägyptischenWeisheit nach, die sie bei der Rezeption der Weisheitslehre des Amen-em-opeeliminiert hatte7. Es war ein hermeneutischer Grundsatz für die fortschreibendeAuslegung „haggadischer“ Überlieferungen in der Hebräischen Bibel, daß dieLebenserfahrungen der Ausleger in ihren jeweils sich wandelnden Horizonten desgesellschaftlichen Diskurses der Prägestempel waren, der den ausgelegten und somodernisierten Texten aufgedrückt wurde. Waren Auflösungserfahrungen staatlicherOrdnung, die für die Transformierung der Ordnungsaspekte ägyptischer Weisheit indie „persönliche Frömmigkeit“ religiösen Egoismus verantwortlich waren, in Judanoch weithin unbekannt, so konnte die „persönliche Frömmigkeit“ als Antwort aufdiese Erfahrungen nicht rezipiert werden. Erst als der judäische Staat in derneuassyrischen Krise unter Druck geriet und in spätbabylonischer Zeit durchNebukadnezar zerstört wurde, kam eine theologische Reflexion in Gang, die sichschließlich im Buch Qohelet den spätägyptischen Intentionen der „persönlichenFrömmigkeit“ näherte8, das aber literarisch völlig unabhängig von ihnen und ohnederen Kenntnis, sondern inzwischen im Dialog nicht mit der ägyptischen Weisheit,sondern der hellenistischen Philosophie9.

BZAW 184, Berlin/New York 1989.6 Unter „konnektiver Gerechtigkeit“ ist der durch das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft

hergestellte Zusammenhang zwischen Tat und Ergehen des Täters zu verstehen: Wer anderenMenschen gegenüber solidarisch gehandelt hat, der kann damit rechnen, daß das nichtvergessen wird, und man auch ihm, wenn er der Solidarität bedarf, diese nicht vorenthält; cf.dazu J. Assmann, Ma‘at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990,60-85; ferner E. Otto, Art. Gerechtigkeit (AT), BThW4, 1994, 220-223; ders., Art. Gerechtig-keit I. Biblisch 1. Altes Testament, RGG4 III, 2000, 702-704; B. Janowski, Die Tat kehrt zumTäter zurück. Offene Fragen im Umkreis des Tun-Ergehen-Zusammenhanges, ZThK 91, 1994,247-271; anders K. Koch, ˝Sädaq und Ma‘at. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten?,in: J. Assmann u.a. (Hg.), Gerechtigkeit: Richten und Retten in der abendländischen Traditionund ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 37-64.

7 Cf. E. Otto, Woher weiß der Mensch um Gut und Böse? Philosophische Annäherungen derägyptischen und biblischen Weisheit an ein Grundproblem der Ethik, in: S. Beyerle u.a. (Hg.),Recht und Ethos im Alten Testament – Gestalt und Wirkung. Festschrift für Horst Seebaß,Neukirchen-Vluyn 1999, 207-231.

8 Cf. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, ThW 3/2, Stuttgart 1994, 117-174.9 Cf. L. Schwienhorst-Schönberger, „Nicht im Menschen gründet das Glück“ (Koh 2,24). Kohe-

let im Spannungsfeld jüdischer Weisheit und hellenistischer Philosophie, HBS 2, Freiburg/

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Die Rechtshermeneutik „halachischer“ Texte der Hebräischen Bibel hatte nochsehr viel komplexere Probleme zu bearbeiten als die „haggadische“ Tradition.Rechtstexte insbesondere in ihrer theologisch legitimierten Gestalt als Gottesrechterheben den Anspruch auf Autorität. Wie können autoritative Rechtstexte in verän-derten gesellschaftlichen Situationen reformuliert werden, ohne durch die ihneninnewohnende Autorität die Reform des Rechts infrage zu stellen und umgekehrtohne ihre Autorität durch die Reformulierung einzubüßen? Dem ist im folgendenzunächst anhand des Deuteronomiums, das ins Zentrum jeder Rechtsgeschichte derbiblischen Tora gehört, nachzugehen.

II. Reform und Reformulierung des Rechts im spätvorexilischenDeuteronomium (Dtn 12-26*)

Das Deuteronomium aus dem ausgehenden 7. Jh. v. Chr., der Zeit des Königs Josia,reformuliert die älteste Gesetzessammlung der Hebräischen Bibel, das sogenannte„Bundesbuch“ in Ex 20,24-26; 21,2-23,1210. Hermeneutischer Schlüssel der Ausle-gung des Bundesbuches im deuteronomischen Gesetz ist das Gebot der Kultzen-tralisierung (Dtn 12*)11, die historisch mit der Kultreform des Königs Josia zuverbinden ist (2 Kön 23*). Anlaß der Reformulierung des Bundesbuches war eineKultreform, die angesichts der engen Verbindung von lokalen Kultorten und Ortsge-richten durch den kultischen Rechtsentscheid (Ex 22,7f.10) eine Rechtsreform nachsich ziehen mußte. Was aber sollte mit der ältesten Rechtstradition in Gestalt desBundesbuches geschehen, die bereits religiös legitimiert als Ausdruck göttlichenWillens deklariert wurde? Kann Gott sich in seinem Rechtswillen widersprechen?Doch nicht allein theoretische Probleme theologischer und juristischer Hermeneutik

Breisgau 1994, passim.10 Zur rechtshistorischen Interpretation des Bundesbuches cf. E. Otto, Wandel der Rechtsbegrün-

dungen in der Gesellschaftsgeschichte des antiken Israel. Eine Rechtsgeschichte des Bundesbu-ches Ex XX 22-XXIII 13, StB 3, Leiden/New York 1988; L. Schwienhorst-Schönberger, DasBundesbuch (Ex 20,22-23,33). Studien zu seiner Entstehung und Theologie, BZAW 188, Ber-lin/New York 1990 (cf. dazu meine Rezension in E. Otto, Vom Profanrecht zum Gottesrecht:Das Bundesbuch, ThR 56, 1991, 412-427); C. Houtman, Das Bundesbuch. Ein Kommentar,DMOA 24, Leiden/New York 1997 (cf. dazu die Rezension von E. Otto in Bib 79, 1998, 414-417).

11 Cf. E. Otto, Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien,BZAW 284, Berlin/New York 1999, 203-378, sowie bereits ders., Vom Bundesbuch zumDeuteronomium. Die deuteronomische Redaktion in Dtn 12-26*, in: G. Braulik u.a. (Hg.), Bi-blische Theologie und gesellschaftlicher Wandel. Festschrift für N. Lohfink SJ, Frei-burg/Breisgau 1993, 260-278; ders., The Pre-exilic Deuteronomy as a Revision of the CovenantCode, in: ders., Kontinuum und Proprium. Studien zur Sozial- und Rechtsgeschichte des AltenOrients und des Alten Testaments, OBC 8, Wiesbaden 1996, 112-122; ferner B.M. Levinson,Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation, New York/Oxford 1997; siehe dazuin diesem Band, 496-506.

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taten sich bei der Reformulierung des Bundesbuches auf, sondern auch konkretepolitische Herausforderungen galt es in Rechnung zu stellen. Das Deuteronomiumentstand in einer Zeit der politischen Auseinandersetzung judäischer Intellektuellermit den politischen Hegemonialansprüchen der neuassyrischen Großmacht12, derentributpflichtiger Vasall Juda war. Sie rezipierten den Loyalitätseid auf den assyri-schen König Asarhaddon und den Kronprinzen Assurbanipal als seinen Nachfolgeraus dem Jahre 672 v. Chr.13 und übersetzten Teile daraus ins Hebräische14, über-trugen aber in subversiver Reformulierung die Loyalitätsforderung vom assyrischenGroßkönig auf JHWH, den Gott Judas (Dtn 13; 28*)15. Ihm allein sollte eine abso-lute Loyalität zukommen, was die Loyalitätsforderung politischer Institutionen in dieSchranken wies. Die kulturhistorische Bedeutung dieser subversiven Reformulie-rung eines Zentraltextes der assyrischen Königsideologie kann nicht hoch genug ver-anschlagt werden, werden doch nicht nur wie in Ps 72 assyrische Motive der Wohl-fahrt für die Völker durch die Königsherrschaft auf den judäischen König übertragenund korrigiert, sondern die religiöse Überhöhung aller politischen Macht prinzipiellinfrage gestellt. Erstmals wird im Alten Orient der Gedanke gedacht, daß das Indivi-duum Recht gegen den Staat haben kann und nicht alles Recht Funktion des Staatesist, ohne den es kein Recht geben könne16. Wird aber die Rechtsdurchsetzung imGegensatz zur neuassyrischen Königsideologie nicht vom König als Repräsentantender Götter, sondern von der Gottheit unmittelbar erwartet, so wird eine Reform undReformulierung der bereits religiös als unmittelbarer Ausdruck des Gotteswillenslegitimierten Rechtstradition ein kompliziertes Unterfangen. Auf der einen Seite sollsie modernisiert und aktualisiert werden, auf der anderen Seite aber muß die Konti-nuität zwischen reformuliertem und reformulierendem Gesetz, ja darüber hinaus de-ren Identität gewahrt bleiben, denn auf der Identität der Rechtstradition als Ausdruckdes Gotteswillens basiert ihre Legitimität. Die mit der Verschriftung von Recht ein-hergehende Herausforderung für die Rechtshermeneutik, daß Recht verschriftetwurde, um es vor Veränderungen zu schützen und auf Dauer zu stellen, erst die Ver-schriftung aber die reflexiv bewußte Veränderung von Recht ermöglicht17, wird mit

12 Cf. E. Otto, Das Deuteronomium, 57ff.364ff.13 Cf. zu Text und Übersetzung K. Watanabe, Die adê-Vereidigung anläßlich der Thronfolgerege-

lung Asahaddons, BaghM.Beih. 3, Berlin 1987; dies./S. Parpola, Neo Assyrian Treaties andLoyalty Oaths, State Archives of Assyria II, Helsinki 1988, Nr. 6.

14 Cf. R. Frankena, The Vassal-Treaties of Esarhaddon and the Dating of Deuteronomy, OTS 14,1965, 122-154; H.U. Steymans, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asar-haddons. Segen und Fluch im Alten Orient und in Israel, OBO 145, Fribourg/Göttingen 1995,passim; E. Otto, Das Deuteronomium (s. Anm. 11), 15-90.

15 Cf. E. Otto, Treueid und Gesetz. Die Ursprünge des Deuteronomiums im Horizont neuassyri-schen Vertragsrechts, ZAR 2, 1996, 1-52; ders., Die Ursprünge der Bundestheologie im AltenTestament und im Alten Orient, ZAR 4, 1998, 1-84; ders., Das Deuteronomium (s. Anm. 11),15ff.

16 Cf. E. Otto, „Human Rights“. The Influence of the Hebrew Bible, JNSL 25/1 (In MemoriamVolume Hannes Olivier), 1999, 1-20, sowie in diesem Band, 120-153.

17 Cf. dazu G. Camassa, Verschriftung und Veränderung der Gesetze, in: H.-J. Gehrke (Hg.),

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der Theologisierung von Recht in der Hebräischen Bibel, die das Recht nicht aufeinen religiös überhöhten Staat, sondern die Gottheit unmittelbar zurückführt, nochverschärft: Die Rechtstradition als Ausdruck des Gotteswillens darf sich nicht wider-sprechen, da sich die Gottheit in ihrem Rechtswillen nicht widerspricht. Die Autorendes Deuteronomiums wenden ein hohes Maß an ausgefeilter Methodik der Exegeseauf, um diese zunächst schier unlösbar erscheinende Aufgabe zu bewältigen, Rechtzu reformieren und dennoch seine inhaltliche Identität zu wahren.

Das Problem und seine Lösung soll zunächst an einem Beispiel verdeutlicht wer-den: In dem Asylstädtegesetz in Dtn 19,2-13*18 wird das Asylgesetz des Bundesbu-ches in Ex 21,12-14 reformuliert:

„(V.12) Du sollst nicht töten. (V.13) Wenn (wa’a÷ær) er ihm aber nichtaufgelauert hat und Gott es seiner Hand geschehen ließ, so habe ich dir einenOrt festgesetzt, an den er fliehen kann. (V.14) Wenn (wekî) ein Mann gegenseinen Nachbarn vorsätzlich handelt, um ihn im Hinterhalt zu töten, entfernstdu ihn von meinem Altar, damit er sterbe“ (Ex 21,12-14).

Der ursprünglich der gentilen Rechtssphäre zuzurechnende Rechtssatz Ex 21,12, deram Prinzip der Erfolgshaftung orientiert war, wird durch die literarisch sekundäreVerbindung mit Ex 21,13-14*19 an die Verfahrensrationalität lokaler Gerichtsinstitu-tionen angebunden20 und so eine Differenzierung zwischen Mord und Körperverlet-zung mit Todesfolge nach dem Verschuldensprinzip mittels einer Rechtsfiktion er-möglicht, die im Falle der unvorsätzlichen Körperverletzung die Gottheit zum Urhe-ber der Tat macht21, so daß dem Täter am Altar des Lokalheiligtums Schutz vor demBluträcher des Getöteten gewährt werden kann. Sind mit der deuteronomischenKultzentralisation die Lokalheiligtümer aufgehoben, bedarf es einer Neufassungihrer Asylfunktion, will man den unvorsätzlich handelnden Täter nicht schutzlosdem Bluträcher ausliefern und die Differenzierung zwischen Mord und Körper-verletzung mit Todesfolge, die rechtshistorisch eine nicht geringe Errungenschaft

Rechtskodifizierung und soziale Normen im interkulturellen Vergleich, ScriptOralia 15, Tübin-gen 1994, 97-112 (cf. dazu meine Rezension in ZAR 2, 1996, 192-196). Zu den sich aus derVerschriftung von Recht in Gestalt des Bundesbuches ergebenden Problemen cf. auch dieMonographie von A. Fitzpatrick-McKinley, The Transformation of Torah from Scribal Adviceto Law, JSOT.S 287, Sheffield 1999 (s. dazu meine Rezension in ZAR 5, 1999, 310-318).

18 Die Verse Dtn 19,1.3a.7-9 sind späte Zusätze; cf. J.C. Gertz, Die Gerichtsorganisation Israelsim deuteronomischen Gesetz, FRLANT 165, Göttingen 1994, 118-127 (cf. dazu meine Rezen-sion in ThLZ 121, 1996, 1130-1133).

19 Cf. L. Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch (s. Anm. 10), 41f.20 Cf. dazu E. Otto, Körperverletzungen in den Keilschriftrechten und im Alten Testament. Stu-

dien zum Rechtstransfer im Alten Orient, AOAT 226, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1991, 138-146.

21 Das hat eine Parallele im altrömischen XII-Tafel-Gesetz VIII 24a: „Wenn eine Waffe mehrohne Absicht des Werfenden aus der Hand gelangt, als daß er sie (bewußt) geworfen hat (sitelum manu fugit magis quam iecit), wird ein Sündenbock gestellt“.

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war, wieder aufgeben. Dieser Reform der Asylgesetzgebung dient die Reformu-lierung von Ex 21,12-14 in Dtn 19,2-13*:

„(V.2) Du sollst in dem Land, das JHWH, dein Gott, dir gegeben hat, damitdu es in Besitz nimmst, drei Städte aussondern. (V.3b) Dann kann jeder, dereinen Menschen getötet hat, in diese Städte fliehen. (V.4) Und so lautet dieBestimmung für denjenigen, der jemanden getötet hat und dorthin flieht, umam Leben zu bleiben: Wenn (’a÷ær) er seinen Nachbarn nicht vorsätzlicherschlagen hat und nicht schon früher mit ihm verfeindet war, (V.5) wenn(wa’a÷ær) er mit seinem Nachbarn in den Wald gegangen ist, um Bäume zufällen, seine Hand mit der Axt ausgeholt hat, um einen Baum umzuhauen, dasEisenblatt sich vom Stiel gelöst, den anderen getroffen hat, und diesergestorben ist, dann kann er in eine dieser Städte fliehen, um zu überleben,(V.6) damit nicht der Bluträcher, der aus Rache den, der getötet hat, verfolgt,ihn einholt und tödlich trifft, obwohl kein Recht besteht, ihn zu töten, da ermit dem Getöteten nicht schon früher verfeindet war – nur weil der Weg(zum Heiligtum) zu weit ist. (V.11) Wenn (kî) es sich um einen Mannhandelt, der mit einem anderen verfeindet war, wenn er ihm auflauerte, ihnüberfiel und tödlich traf, so daß er starb, und wenn er in eine dieser Städtefloh, (V.12) dann sollen die Ältesten seiner Stadt ihn von dort holen lassenund dem Bluträcher übergeben, und er soll sterben“ (Dtn 19,2.3b.4-6.11-12).

Die in Ex 21,12-14 einmalige Abfolge der konditionalen Konjunktionen ’a÷ær (V.13)und kî (V.14), die in der Hebräischen Bibel hier und in Dtn 19 singulär ist, die denFormgesetzen alttestamentlicher Rechtssätze widerspricht und sich nur aus dem lite-rarischen Wachstumsprozeß in Ex 21,12-14 erklärt, wird in Dtn 19,2-13* rezipiert.Einen durchschlagenderen Beweis der direkten Abhängigkeit des Asylstädtegesetzesin Dtn 19,2-13* von Ex 21,12-14 kann es nicht geben – ja, man kann noch einenSchritt weiter gehen und feststellen, daß, wenn der deuteronomische Autor diesesinguläre Abfolge von Konjunktionen nicht gattungskonform umformulierte, son-dern übernahm, er sein Asylstädtegesetz in Dtn 19,2-13* als Auslegung des Asylge-setzes des Bundesbuches in Ex 21,12-14 kennzeichnen wollte. Das deuteronomischeAsylgesetz bedient sich der Autorität des Bundesbuches und gibt sich deshalb alsdessen Reformulierung zu erkennen. Diesen Doppelaspekt der Veränderung undIdentitätswahrung in der Reformulierung bringt auch die Zitationsformel in Dtn 19,4„so lautet die Bestimmung für denjenigen, der jemanden getötet hat“ zum Ausdruck.Der hermeneutische Schlüssel der Reformulierung des Asylgesetzes in Ex 21,12-14ist das Gebot der Kultzentralisierung in Dtn 12,13-27*: An die Stelle der Lokalhei-ligtümer, die mit der Kultzentralisation abgeschafft werden, treten nun die drei Asyl-städte. Diese Reformintention strukturiert auch den Aufbau von Dtn 19,2-13*. Folgtmit Ex 21,13-14 die Asylregelung für die Lokalheiligtümer als Legalinterpretationdem Tötungsgesetz in Ex 21,12, so kehrt der deuteronomische Autor diese Reihen-folge um. An die erste Stelle rückt die Asylstädteregelung als Konsequenz aus derKultzentralisation. Dtn 19,6 „wenn der Weg zu lang ist“ begründet die Notwendig-

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keit der Reformulierung der Asylgesetzgebung nach Abschaffung der Lokalheiligtü-mer. Wie aber kann sich der deuteronomische Autor auf das Bundesbuch als Autori-tät berufen, wenn er seine Neufassung des Asylgesetzes als Reformulierung desBundesbuches zu erkennen gibt und gleichzeitig die Asylgesetzgebung des Bundes-buches mit der Abschaffung der Asylfunktion der Lokalheiligtümer aus den Angelnhebt? Das Verfahren ist rechtshermeneutisch so genial wie einfach: Die Asylgesetz-gebung des Deuteronomiums läßt eine erstaunliche Lücke, wenn das Zentralheilig-tum in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wird. Sollte es im Gegensatz zu denabgeschafften Lokalheiligtümern keine Asylfunktion mehr haben, so hätte das derRegelung bedurft. Hiermit ist vielmehr die Antwort auf die Frage gegeben, warumder deuteronomische Autor in Dtn 19,2-13* so nachdrücklich durch Zitat daraufhinweist, daß er sich auf einen vorgegebenen Rechtssatz des Bundesbuches bezieht.Ex 21,13 hat mit „ich habe dir einen Ort (maqôm) festgesetzt, an den er fliehenkann“ ursprünglich das Lokalheiligtum im Blick, woran Ex 21,14 mit dem Motivdes Altars keinen Zweifel läßt. „Ort“ (maqôm) ist terminus technicus für das Heilig-tum, d.h. das Lokalheiligtum gleichermaßen wie das Zentralheiligtum, wie diedeuteronomische Zentralisationsformel22 „der Ort (maqôm), den JHWH, dein Gott,erwählt hat, um dort seinen Namen aufzurichten“ (Dtn 12,21 u.ö.) zeigt. In der Per-spektive dieser, die Zentralisationsgesetze des Deuteronomiums durchziehendenFormel gelesen, bezieht sich Ex 21,13f. aber nicht mehr auf die Lokalheiligtümer,sondern auf das Zentralheiligtum, während Dtn 19,2-13* die Gesetzgebung für diezum Zentralheiligtum hinzutretenden Asylstädte nachträgt. Dtn 19,2-13* revidiert sointerpretiert die Asylgesetzgebung des Bundesbuches, insofern es nun unmöglich ist,in Ex 21,12-14, im Horizont der deuteronomischen Gesetzgebung gelesen, „Ort/Hei-ligtum“ (maqôm) weiterhin auf die Lokalheiligtümer zu beziehen: Es bleibt als ein-zige Deutungsmöglichkeit nur die auf das Zentralheiligtum im Sinne des deuterono-mischen Gesetzes. Mit der Revision durch Dtn 19,2-13* ist das Asylgesetz des Bun-desbuches also keineswegs abgetan oder gar für ungültig erklärt worden. Vielmehrwird der auslegende Text zum hermeneutischen Schlüssel für die Interpretation desausgelegten Textes. Durch die zitierende Rezeption gerade der ungewöhnlichen Fü-gung in der Abfolge der Konjunktionen wird jedermann vor Augen geführt, daß dasdeuteronomische Gesetz das Bundesbuch reformuliert und in die deuteronomischeDialektik von Zentralheiligtum und „profanen“ Ortschaften im Lande ohne Lokal-heiligtümer einbezieht. Nur wenn das revidierte Gesetz des Bundesbuches weiterhinAutorität hat, zitiert man es im revidierenden Rechtstext. Auf das Zentralheiligtuminterpretiert konnte die Asylgesetzgebung des Bundesbuches weiterhin gelten undim Lichte der Zentralisationsformel gelesen bezog sie sich auf das Zentralheiligtum,die Asylgesetzgebung des Deuteronomiums aber auf die Landgebiete.

Wenn der ausgelegte Text im Horizont des auslegenden Textes interpretiert wird,erhält der auslegende Text eine die Interpretation steuernde Autorität und entmachtet

22 Cf. dazu N. Lohfink, Zur deuteronomischen Zentralisationsformel, in: ders., Studien zum Deu-teronomium und zur deuteronomistischen Literatur I, SBAB 8, Stuttgart 1991, 147-177.

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in gewisser Weise den ausgelegten Text. Das Traditionsprinzip bleibt auch dannnoch, wenn die Widerspruchsfreiheit von reformuliertem und reformulierendem Ge-setzestext gewahrt wird, nicht unproblematisch.

Ehe wir fragen, ob die deuteronomischen Autoren das Problem gesehen haben,halten wir einen Moment inne. Es ging ihnen um eine Zentralisierung des Kultes andem einen von Gott erwählten Heiligtum, denn nur hier sollte es noch legitime Opfergeben. Damit mußte auch das System der Rechtsinstitutionen reformiert werden, dadie Rechtsfunktionen der Lokalheiligtümer, zu denen die Asylfunktion gehörte, fort-fiel. Mit der Institutionenreform mußten auch die entsprechenden Gesetzestexte re-vidiert werden. Ganz ohne Zweifel mußte nun dem Gesetz, das den reformiertenInstitutionen entsprach, Autorität zukommen, also im Falle des Asylrechts dem Ge-setz Dtn 19,2-13*, wobei es hier offen bleiben kann, ob die reformulierten GesetzeGrundlage der Institutionenreform waren oder die Gesetze aufgrund der Institutio-nenreform reformuliert werden mußten. Es darf jedenfalls als eine rechtshermeneuti-sche Leistung gelten, daß die deuteronomischen Autoren die Reformulierung derGesetze so vorgenommen haben, daß das reformulierte Gesetz des Bundesbuchesüberholt wurde und dennoch eine aktualisierte Fassung daneben widerspruchsfreiPlatz hatte. Mit der Revision des Asylgesetzes des Bundesbuches in Dtn 19,2-13*konnten sie auch die Differenzierung zwischen Mord und Körperverletzung mitTodesfolge bewahren. Die deuteronomischen Autoren verbesserten darüber hinausdie Justitiabilität der Asylgesetze. Nach Ex 21,13f. mußte vor Gericht bewiesenwerden, daß der Täter dem Getöteten einen Hinterhalt gelegt hat, um ihn als Mörderzu verurteilen, ein Beweis, der kaum zu erbringen ist. Daß im Falle derunvorsätzlichen Tat die Gottheit der Verursacher sein sollte, war nicht justitiabel.Insofern läßt die Formulierung in Ex 21,13f. einen breiten Spielraum für dieBewertung der Tat, was zur Unsicherheit der Gerichte führen mußte. Dtn 19,2-13*ist um Präzisierung bemüht. In Dtn 19,5 soll durch eine paradigmatischeFallbeschreibung, die darauf verzichtet, die Gottheit als Verursacher zu nennen undstatt dessen ein technisches Versagen als Erweis der Unvorsätzlichkeit ins Feldführt, dem Gericht Anhalt für die Unterscheidung zwischen Mord und Körperver-letzung mit Todesfolge gegeben werden, der justitiabel ist. Die deuteronomischenAutoren wußten aber um die Schwierigkeit, unmittelbare Zeugen der Tötungbeizubringen. Sie eröffneten deshalb die Möglichkeit, durch Zeugen das bisherigeVerhältnis von Täter und Opfer zu erheben und daraus Schlüsse auf den Vorsatz zuziehen. Mit der Reformulierung verbesserten sie die Applikationsfähigkeit desAsylgesetzes erheblich. Wurde damit aber dem älteren Asylgesetz des Bundesbu-ches nicht weitere Autorität zugunsten von Dtn 19,2-13* entzogen und dieRechtstradition in Gestalt des Bundesbuches entwertet? Die deuteronomischenAutoren haben auf subtile Weise diesem Eindruck entgegengesteuert. Das Bundes-buch regelt in der deuteronomischen Perspektive gelesen das Asylrecht des Zentral-heiligtums, während das reformulierte Gesetz des Deuteronomiums nur die Gesetzefür die Asylstädte auf dem Lande enthält. Im älteren Gesetz des Bundesbuches als

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dem gebenden kommt dieser Perspektive die höhere Dignität zu als dem deutero-nomischen Gesetz als dem nehmenden23.

Die deuteronomischen Autoren haben von vornherein das Gesetz des Deuterono-miums nicht nur als Reformulierung und Reformierung des Bundesbuches, sondernauch als dessen Ergänzung in den Teilen, die nicht durch das Gebot der Kultzentra-lisierung als hermeneutischen Schlüssel der Reformulierung des Bundesbuches tan-giert wurden, konzipiert. Das Bundesbuch enthält mit Ex 22,15f. nur einen einzigenRechtssatz zum Familienrecht. Dieser Rechtssatz behandelt die Verführung einesunverheirateten Mädchens und die daraus resultierende Forderung, den Brautpreis anihren Vater zu zahlen24. Das Deuteronomium dagegen integriert eine ganze Samm-lung von Rechtssätzen des Familienrechts in Dtn 21,15-21; 22,13-29; 24,1-4; 25,5-10, die ein weites Themenspektrum vom Erbrecht über Ehebruch und Vergewalti-gung bis zum Scheidungsrecht und zur Leviratsehe behandelt25. Umgekehrt enthält

23 Derartige Überlegungen zur Wahrung des Traditionsprinzips werden dort notwendig, wo dasRecht auf göttliche Autorität unmittelbar zurückgeführt wird. Das unterscheidet das explizittheologisierte biblische Recht vom Keilschriftrecht als Bestandteil des mesopotamischenSchreibercurriculums; cf. dazu E. Otto, Town and Rural Countryside in Ancient Israelite Law.Reception and Redaction in Cuneiform and Israelite Law, JSOT 57, 1993, 3-22 (= J.W. Roger-son [Hg.], The Pentateuch. A Sheffield Reader, Sheffield 1996, 303-221); S. Greengus, SomeIssues Relating to the Comparability of Laws and the Coherence of Legal Tradition, a.a.O., 60-87, sowie in diesem Band, 341-366. Ein besonders eindrückliches Beispiel des Programmseiner Rechtsreform im Keilschriftrecht ist die Sammlung der Mittelassyrischen Rechtssätze derTafel A (KAV 1), die eine gentile Strafverfolgung zugunsten öffentlicher Gerichtsinstitutioneneinschränken will; cf. dazu E. Otto, Das Eherecht im Mittelassyrischen Kodex und imDeuteronomium. Tradition und Redaktion in den §§ 12-16 der Tafel A des MittelassyrischenKodex und in Dtn 22,22-29, in: M. Dietrich/O. Loretz (Hg.), Mesopotamica – Ugaritica –Biblica. Festschrift für K. Bergerhof, AOAT 232, Kevelaer/Neukirchen-Vluyn 1993, 259-281(= ders., Kontinuum und Proprium [s. Anm. 11], 172-191); ders., Die Einschränkung desPrivatstrafrechts durch öffentliches Strafrecht in der Redaktion der Paragraphen 1-24; 50-59des Mittelassyrischen Kodex der Tafel A (KAV 1), in: W. Zwickel (Hg.), Biblische Welten.Festschrift für M. Metzger, OBO 123, Fribourg/Göttingen 1993, 131-166; ders., DieRechtsintentionen des Paragraphen 6 der Tafel A des Mittelassyrischen Kodex in Tradition undRedaktion, UF 23, 1991 (ersch. 1992), 307-314; ders., Rechtsreformen in Deuteronomium XII-XXVI und im Mittelassyrischen Kodex der Tafel A (KAV 1), in: J.A. Emerton (Hg.), CongressVolume Paris 1992, VT.S 61, Leiden 1995, 239-273, sowie in diesem Band, 192-309. Daß dieRechtssammlung des Hammurapi reformierenden Charakter hat, ist schon lange gesehenworden; cf. nur zum Körperverletzungsrecht E. Otto, Körperverletzungen (s. Anm. 20), 51-78;R. Yaron, „Enquire now about Hammurabi, Ruler of Babylon“, TRG 51, 1991, 223-238; M.Roth, Mesopotamian Legal Traditions and the Laws of Hammurabi, Chicago-Kent Law Review71, 1995, (13-41) 24ff.

24 Cf. E. Otto, Zur Stellung der Frau in den ältesten Rechtstexten des Alten Testaments (Exodus20,14; 22, 15f.) – Wider die hermeneutische Naivität im Umgang mit dem Alten Testament,ZEE 26, 1982, 279-305 (= ders., Kontinuum [s. Anm. 23], 30-48); ders., Theologische Ethikdes Alten Testaments (s. Anm. 8), 27f.

25 Cf. C. Pressler, The View of Women Found in the Deuteronomic Family Laws, BZAW 216,Berlin/New York 1993 (cf. dazu meine Rezension in ThLZ 119, 1994, 983-986); E. Otto, FalseWeights in the Scales of Biblical Justice? Different Views of Women from Patriarchal

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das Bundesbuch eine komplex redigierte Sammlung von Fällen des Körperverlet-zungsrechts in Ex 21,18-22,3226, während das Deuteronomium nur einen einzigenRechtssatz zu dieser Thematik in Dtn 25,11, der an assyrisches Recht anknüpft27,enthält.

Die deuteronomischen Autoren standen vor einer schwierigen Aufgabe: In derAuseinandersetzung mit den politischen Ansprüchen der neuassyrischen Hegemoni-almacht wollten die judäischen Intellektuellen die Überlegenheit der judäischenRechtstradition als die ihres Gottes JHWH über die der Assyrer erweisen. Sollte derGott JHWH dem nur an einem Ort, der Stadt Assur, kultisch verehrten Gott Assur28

an Rationalität und Modernität nicht nachstehen, mußten auch die JHWH-Opfer andem einen Kultort Jerusalem, dem „Ort, den JHWH erwählt hat“, zentriert werden29.Die daraus resultierende Notwendigkeit einer Umstrukturierung der Gerichts-institutionen aufgrund des Wegfalls der Lokalheiligtümer und damit des kultischenRechtsentscheids30 mußte eine Reform der gesamten mit der Lokalgerichtsbarkeit

Hierarchy to Religious Equality in the Book of Deuteronomy, in: V.H. Matthews u.a. (Hg.),Gender and Law in the Hebrew Bible and the Ancient Near East, JSOT.S 262, Sheffield 1998,128-146; ders., Gottes Recht als Menschenrecht. Studien zur Redaktionsgeschichte undsynchronen Logik diachroner Transformationen, BZAR 2, Wiesbaden 2002, 248ff.

26 Cf. dazu E. Otto, Körperverletzungen (s. Anm. 20), 118-137.27 Cf. dazu S.M. Paul, Biblical Analogues to Middle Assyrian Law, in: E.B. Firmage u.a. (Hg.),

Religion and Law: Biblical-Judaic and Islamic Perspectives, Winona Lake 1990, 333-350.28 Cf. dazu W. Mayer, Politik und Kriegskunst der Assyrer, Abhandlungen zur Literatur Alt-Sy-

rien-Palästinas und Mesopotamiens 9, Münster 1995, 63; ders., Der Gott Assur und die ErbenAssyriens, in: R. Albertz (Hg.), Religion und Gesellschaft. Studien zu ihrer Wechselbeziehungin den Kulturen des Antiken Vorderen Orients, AOAT 248, Münster 1997, (15-23) 15f.

29 Cf. E. Otto, Das Deuteronomium (s. Anm. 11), 341ff. Auch mit dem deuteronomischen Sozi-alprogramm, das u.a. Zinsverbot, Schuldenerlaß, Beschränkungen des Pfandrechts des Gläubi-gers, Sklavenfreilassung und Verteilung des Drittjahreszehnten an die Armen umfaßt, wolltendie judäischen intellektuellen Autoren des Deuteronomiums die entsprechende assyrischeInstitution der königlichen Restitutions-Edikte ([an-]dur@ru) übertrumpfen; cf. E. Otto,Programme der sozialen Gerechtigkeit. Die neuassyrische (an-)dur@ru-Institution sozialenAusgleichs und das deuteronomische Erlaßjahr in Dtn 15, ZAR 3, 1997, 26-63, sowie in diesemBand, 394-432. Zum deuteronomischen Programm des Geschwisterethos cf. auch G. Barbiero,L’asino del nemico. Renuncia alla vendetta e amore del nemico nella legislazione dell’AnticoTestamento (Es 23,4-5; Dt 22,1-4, Lv 19,17-18), AnBib 128, Rom 1991, 131-202; H.-J. Fabry,Deuteronomium 15. Gedanken zur Geschwisterethik im Alten Testament, ZAR 3, 1997, 92-111; M. Oosthuizen, Deuteronomy 15:1-8 in Socio-Rhetorical Perspective, ZAR 3, 1997, 64-91. Zur Wirkungsgeschichte des deuteronomischen Sozialprogramms cf. E. Otto, Gerechtigkeitund Erbarmen im Recht des Alten Testaments und seiner christlichen Rezeption, in: ders.,Kontinuum (s. Anm. 23), 342-357 (= J. Assmann u.a. [Hg.], Gerechtigkeit. Richten und Rettenin der abendländischen Tradition und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 79-95); ders., „Um Gerechtigkeit im Land sichtbar werden zu lassen …“ Zur Vermittlung vonRecht und Gerechtigkeit im Alten Orient, in der Hebräischen Bibel und in der Moderne, in: J.Mehlhausen (Hg.), Recht – Macht – Gerechtigkeit, Veröffentlichungen der WissenschaftlichenGesellschaft für Theologie 14, Gütersloh 1998, 107-145.

30 Zur Bedeutung des kultischen Rechtsentscheids im altorientalischen Prozeßrecht cf. E. Dom-bradi, Die Darstellung des Rechtsaustrags in den altbabylonischen Prozeßurkunden I, Stuttgart

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verbundenen Gesetzesüberlieferung nach sich ziehen. Sollte aber die judäischeRechtstradition als die überlegene erwiesen werden, so konnte sie nicht gleichzeitigdurch ihre Reformierung und modernisierende Reformulierung infrage gestellt wer-den, zumal sie als bereits theologisierte Tradition als Ausdruck des Gotteswillenslegitimiert wurde, die Gottheit sich aber nicht widersprechen durfte. Die rechtsher-meneutische Lösung der judäischen Autoren des Deuteronomiums sah vor, die Re-formulierung des Bundesbuches als des zu reformulierenden Textes so vorzuneh-men, daß der ausgelegte Text, im Horizont des auslegenden interpretiert, nicht imWiderspruch zur Gesetzesnovelle stand, ja durch geschickte Verteilung der Rechts-materie der Anschein des traditionsgeschichtlichen Vorranges des ausgelegtenTextes vor dem auslegenden gewahrt blieb.

Das für die Rezeption von Ex 21,12-14 in Dtn 19,2-13* nachgezeichnete Verfah-ren wird durch die deuteronomische Rezeption des Sklavengesetzes des Bundesbu-ches Ex 21,2-11 in Dtn 15,12-18 bestätigt:

„(V.2) Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, soll er sechs Jahre langdienen. Im siebten Jahr soll er ohne Entgelt als Freigelassener ausziehen.(V.3) Wenn er allein gekommen ist, soll er allein ausziehen. Wenn er Ehe-mann war, soll seine Frau mit ihm ausziehen. (V.4) Wenn sein Herr ihm eineEhefrau gibt und sie ihm Söhne oder Töchter gebiert, soll die Frau mit ihrenKindern bei ihrem Herrn verbleiben, und er soll allein ausziehen. (V.5) Wennder Sklave mit Nachdruck sagt: ‚Ich liebe meinen Herrn, meine Frau undmeine Kinder, ich will nicht als Freigelassener ausziehen‘, (V.6) dann sollsein Herr ihn vor Gott führen und ihn an den Türflügel oder an den Tür-pfosten heranführen, und sein Herr soll sein Ohr mit einem Pfriemen durch-bohren, und er soll ihm für immer als Sklave dienen.(V.7) Wenn ein Mann seine Tochter als Sklavin verkauft, so soll sie nichtausziehen, wie der Sklave auszieht. (V.8) Wenn sie ihrem Herrn mißfällt,nachdem er sie für sich bestimmt hat, soll er sie loskaufen lassen. Er darf sienicht an eine fremde Familie verkaufen, da er treulos an ihr handelt. (V.9)Wenn er sie für seinen Sohn bestimmt, soll er mit ihr nach dem Recht derTöchter verfahren. (V.10) Wenn er sich eine weitere Frau nimmt, soll er ihreNahrung, Kleidung und ihre Unterkunft nicht schmälern. (V.11) Wenn erdiese drei Dinge nicht gewährt, soll sie unentgeltlich, ohne Geld zu bezahlen,frei ausziehen“ (Ex 21,2-11).

Das Sklavengesetz des Bundesbuches in Ex 21,2-11 arbeitet an der Vermittlung vonSklavenfreilassungsgebot und Eherecht. Ex 21,2-6 und Ex 21,7-11 sind als Fall undGegenfall unter diesem Gesichtspunkt zusammengestellt worden. Ex 21,2-6 behan-delt den Fall eines Mannes, der als Arbeitskraft gekauft im siebten Jahr freigelassenwerden soll, wobei als Unterfall zu klären ist, was mit seiner Ehefrau, die er in dasSklavenverhältnis mitbringt oder die ihm während des Sklavenverhältnisses gegeben

1996, 233-239, sowie in diesem Band, 310-329.

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wurde, zu verfahren ist (Ex 21,3f.). Als Gegenfall wird in Ex 21,7-11 die Ver-sklavung einer unverheirateten Frau geregelt, die für ein Eheverhältnis erworbenwurde und die nur im Falle, daß ihr die Rechte einer Ehefrau vorenthalten werden,sofort gehen darf. Dieses letztere Gesetz wird ebenso wie die eherechtlich relevantenRegelungen in Ex 21,3f. nicht rezipiert. Nur die Freilassungsregelung und ihr Ge-genfall in Ex 21,5f., daß der Sklave freiwillig in ein dauerhaftes Sklavenverhältnisübergeht, werden reformuliert:31

„(V.12) Wenn sich dir dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin,verkauft, dient er dir sechs Jahre lang; aber im siebten Jahr sollst du ihn alsfreien Mann entlassen. (V.13) Wenn du ihn als freien Mann entläßt, sollst duihn nicht leer entlassen.(V.14) Du sollst ihm von deinen Schafen und Ziegen, von deiner Tenne undvon deiner Kelter soviel mitgeben, wie er tragen kann. Wie JHWH, dein Gott,dich gesegnet hat, so sollst du ihn bedenken. (V.15) Denke daran, daß duSklave gewesen bist im Lande Ägypten und daß dich JHWH, dein Gott,losgekauft hat. Darum gebiete ich dir heute solches. (V.16) Sollte er aber zudir sagen: ‚Ich will nicht von dir fortgehen‘, weil er dich und deine Familielieb gewonnen hat, da es ihm bei dir gut geht, (V.17) so nimm einen Pfriemenund bohre ihn durch sein Ohr in die Tür; dann ist er dein Sklave für immer.Auch mit deiner Sklavin sollst du das gleiche tun. (V.18) Halte es nicht füreine Härte, wenn du ihn als freien Mann entläßt; denn was er in den sechsJahren für dich erarbeitet hat, entspricht dem, was du einem Tagelöhner alsLohn hättest zahlen müssen. Dann wird dich JHWH, dein Gott, segnen inallem, was du tust“ (Dtn 15,12-18).

Die Dienstpflicht des Sklaven von sechs Jahren zieht der deuteronomische Autor imGegensatz zur Exodusfassung in die Protasis und bringt damit zum Ausdruck, daßdie Freilassung im siebten Jahr die Stipulation des Gesetzes ist. Entsprechend er-gänzt er das Bundesbuch durch die Ausstattung des Freizulassenden als Legalinter-pretation (Dtn 15,13f.). Das deuteronomische Geschwisterethos diktiert hier die Re-formulierung des Bundesbuches. So vermeidet der deuteronomische Autor auchzunächst die Begriffe von Herrn und Sklaven. Statt vom „hebräischen Sklaven“spricht er von „deinem Bruder, dem Hebräer“. Erst in Dtn 15,17, nach derfreiwilligen lebenslangen Verpflichtung, im Sklavenstand zu bleiben, benutzt er denBegriff „hebräischer Sklave“ aus dem Bundesbuch. Das Geschwisterethos ließ ihnauch die eherechtlichen Bestimmungen in Ex 21,3f. nicht rezipieren. Ex 21,4stipuliert implizit, daß die im Haus des Herrn geborenen Sklaven im Gegensatz zuden als Schuldsklaven verkauften freien Israeliten Vollsklaven sind und weder einerFreilassungsregelung noch als Frauen der Schutzregelung (Ex 21,7-11) unterliegen.Das deuteronomische Reformprogramm hat den Judäer als „Bruder“ im Blick, der erauch bleibt, wenn er seine Arbeitskraft als Sklave verkauft. Wird er aber freiwillig

31 Cf. dazu E. Otto, Das Deuteronomium (s. Anm. 11), 303-311.

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Vollsklave, steht er nicht mehr unter dem Schutz des deuteronomischen Programmsund genießt erst wieder dessen Schutz, wenn er die freiwillige Versklavung aufkün-digt und flieht (Dtn 23,16f.). Die eherechtliche Regelung Ex 21,4 wird nicht rezi-piert, da sie den Verlust des geschwisterlichen Status ohne Zustimmung des Betrof-fenen bedeutet und nicht an den Pflichten, sondern den Rechten des Herrn orientiertist. Auch wenn sich ein „Israelit verkauft“, ist er nach Meinung des deuteronomi-schen Autors kein Sklave, sondern „Bruder“, der Lohnarbeiter ist, woran Dtn 15,18,einen Bogen zurück zu Dtn 15,12 schlagend, keinen Zweifel läßt. Der Freizulas-sende hat in den sechs Jahren das Doppelte oder zumindest soviel erarbeitet, wie füreinen Tagelöhner zu zahlen gewesen wäre. Der deuteronomische Autor dehnt dieFreilassungsstipulation auf die Frau aus, die sich als Arbeitskraft verdingt hat. Pro-grammatisch formuliert er, wenn er in Dtn 15,12 den „Bruder“ als „Hebräer“ oder„Hebräerin“ definiert.

Der deuteronomische Autor rezipiert das Sklavengesetz des Bundesbuches nichtnur, weil es in sein Programm des Geschwisterethos paßt, sondern auch weil von derKultzentralisation als hermeneutischem Schlüssel seine Reformulierung desBundesbuches betroffen ist. Der Sklave, der freiwillig in die Dauerknechtschaft ein-treten will, soll an das Lokalheiligtum gebracht werden (Ex 21,6), um dort die Skla-venmarkierung zu erhalten. Dtn 15,17 verlegt diesen Vorgang an die Tür desHauses. Aus dem Unterfall im Bundesbuch in Ex 21,5f. wird ein Gegenfall zurFreilassung.

Als Teil des deuteronomischen Geschwisterethos will das Sklavenfreilassungsge-setz durch Paränese der direkten Anrede des Herrn, durch die Erinnerung an denAuszug (Dtn 15,16) und durch Argumente ökonomischer Rationalität (Dtn 15,18)überzeugen. Hinzu kommt die durch die Kultzentralisation notwendig gewordeneUmformulierung von Ex 21,6. Im Horizont der deuteronomischen Zentralisations-formel gelesen bezieht sich Ex 21,6 auf das Zentralheiligtum und ist die notwendigeErgänzung von Dtn 15,16. Die Gebote des deuteronomischen Gesetzes und desBundesbuches, das in der Perspektive des Deuteronomiums gelesen werden will,ergänzen sich so, daß das Gesetz des Bundesbuches sich auf das Zentralheiligtumund das deuteronomische Gesetz auf das Land bezieht: Wie das ZentralheiligtumAsylfunktion für seine unmittelbare Umgebung hat, draußen im Land aber dieAsylstädteregelung gilt, so kann in unmittelbarer Nähe des Zentralheiligtums derSklave auch „zu Gott gebracht werden“. Das Verhältnis nicht der Ablösung, sondernder Ergänzung des Bundesbuches durch das deuteronomische Gesetz, das denhermeneutischen Schlüssel zur Interpretation des Bundesbuches abgibt, wird nochdurch Ex 21,7-11 verdeutlicht. Ex 21,2-6 regelt die Versklavung eines Mannes alsArbeitskraft und Ex 21,7-11 die einer Frau als Ehefrau. Nur implizit ist in Ex 21,2-6der Fall der Frau, die nur als Arbeitskraft, nicht aber als Ehefrau versklavt wird, imAnalogieschluß geregelt. Dtn 15,18-20 macht die implizite Regelung des Bundes-buches explizit. Wie aber soll nach dem Deuteronomium im Falle, daß eine Frau indie Ehe verkauft wird, verfahren werden? Die Antwort kann nur das Bundesbuchgeben, und zwar so, daß in diesem Fall nach Ex 21,7-11 zu verfahren ist. Das

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Bundesbuch ergänzt das deuteronomische Reformprogramm, das nicht auf denSchutz der Frau durch die Rechte einer Ehefrau verzichtet, sondern in diesem Falldie Regelung des Bundesbuches voraussetzt, die im Gegensatz zu Ex 21,2-6 nichtreformuliert werden muß.

Wie prekär aber das Verhältnis zwischen reformulierendem und reformuliertemText auch dann ist, wenn der reformulierende Text den reformulierten nicht ablöst,sondern hermeneutischer Schlüssel zu seiner Interpretation ist, zeigt die Rezeptionvon Ex 21,5f. und der Verzicht auf Ex 21,3f. Der deuteronomische Autor setzt allesdaran, in der Umklammerung von Dtn 15,16f. durch Dtn 15,12-15.18 die lebens-lange Vollsklaverei zurückzudrängen: Dtn 15,16f. soll unter der Generalklauselgelesen werden, daß alle Sklaven das Recht haben, als Freie zu gehen32. Warumübernahm er Ex 21,5f., wenn die lebenslange Vollsklaverei seinem Bild von der ge-schwisterlichen Gesellschaft, in der kein Bruder und keine Schwester Sklave seinsollte, widersprach? Und warum rezipierte er Ex 21,5f., ließ aber Ex 21,3f. aus? DasKriterium, nach dem der deuteronomische Autor über Rezeption und Nichtrezeptionentschied, liegt auf der Hand: Es ist der erklärte freie Wille des „Bruders“. Wenn ersich freiwillig lebenslang in die Hand des Herrn begibt, weil es ihm dort gut gehtund der ihn liebt, so soll das möglich bleiben. Aber keine anderen Gesichtspunkte,die den Sklaven in seiner Entscheidung drängen könnten, sollen dabei eine Rollespielen, etwa die Liebe zu Frau und Kindern, die er verlassen müßte, wenn er seinFreiheitsrecht wahrnimmt – einzig die Güte des Herrn darf den Ausschlag für dieEntscheidung, zu bleiben, geben. Ist nun aber Exodus 21,4 weiterhin gültig? Hierliegt eine Form von Revision des vorgegebenen Rechts vor, ohne es ausdrücklich zuzitieren. Wird Ex 21,7-11 auch auf die dem Schuldsklaven gemäß Ex 21,4 zur Fraugegebene Sklavin angewandt, so darf sie mit ihrem Mann gehen. Im Analogieschlußwird dieses Recht auch durch die Einführung der „Hebräerin“ in Dtn 15,12-18gestützt. Die Kinder aus einer derartigen Beziehung bleiben automatisch bei ihrenEltern, wenn die Ehefrau gehen darf. Damit aber ist der Kreislauf, der nach Ex 21,3f.zu judäischen Vollsklaven in der Hand des Herrn führt, unterbrochen. Er hat keinejudäische Sklavin, die ihm Kinder als Vollsklaven gebären könnte, und damit auchkeine Frauen, die er den Schuldsklaven als Ehefrauen geben könnte. Es könnte sichallenfalls um Ausländerinnen handeln, die nicht Thema des deuteronomischenReformprogramms sind33. So ist der Satz Ex 21,3f. faktisch abrogiert, indem derdeuteronomische Autor ein Gefüge der wechselseitigen Interpretation der Gebotevon Bundesbuch und Deuteronomium erstellt, das die zu abrogierende Regelunglangfristig überflüssig macht und dadurch aus den Angeln hebt. Ein solchesVerfahren indirekt-subversiver Fortschreibung setzt voraus, daß der reformierte Text

32 Cf. J.M. Hamilton, Social Justice and Deuteronomy. The Case of Deuteronomy 15, SBL.DS136, Atlanta 1992, 22.

33 Erst durch späte deuteronomistische Redaktion werden in Dtn 21,10-14 die kriegsgefangenenSklavinnen dem Schutz des Eherechts unterstellt und damit den judäischen Sklavinnen gleich-gestellt; cf. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments (s. Anm. 8), 200f.

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weiterhin Autorität beansprucht und nicht direkt für ungültig erklärt oder durch einedirekt widersprechende Regelung außer Kraft gesetzt werden soll.

Daß es sich bei der Reformulierung des Bundesbuches im Deuteronomium umhermeneutische Kunstgriffe handelte, steht außer Frage. Das Bundesbuch regelt, imHorizont des Deuteronomiums interpretiert, Sachverhalte wie das Asyl am Zentral-heiligtum, die es ursprünglich gar nicht kannte, die aber nun seine Priorität vor demDeuteronomium begründen sollen. Im Ergebnis aber war dieser Kunstgriff bei derReformulierung des Bundesbuches durch das Deuteronomium von Erfolg gekrönt:Das Bundesbuch wurde noch nachdeuteronomisch in die Sinaiperikope eingefügtund zur direkten Gottesoffenbarung, während das Deuteronomium sich als durchMose vermittelt mit dem Land Moab jenseits des Jordans als Ort der Promulgationbegnügen mußte. Das Ziel der Autoren des Deuteronomiums, die traditionsge-schichtliche Priorität des Bundesbuches seiner Modernisierung im Deuteronomiumzum Trotz zu bewahren, wurde so offenbarungstheologisch in nachexilischer Zeitratifiziert.

III. Schriftgelehrte Rechtshermeneutik der nachexilischen Tora desPentateuch

Die bereits spätvorexilisch aufgebrochene Problematik, die Identität der Rechtstradi-tion ihrer modernisierenden Reform und Reformulierung zum Trotz zu wahren, wirdin der nachexilischen Zeit mit der Vereinigung unterschiedlicher Rechtskorpora ineiner Tora des Pentateuch noch verschärft. War bereits vorexilisch eine Komponenteder Rechtshermeneutik die Aufgabe, die Traditionsidentität aufgrund der bereitserfolgten Theologisierung des Rechts zu wahren, so tritt dieser Aspekt nachexilischin den Mittelpunkt: Es bedarf der ganzen Kunst der Rechtshermeneutik, um dieEinheit des Gotteswillens in der einen Tora trotz der so unterschiedlichen Konzep-tionen von Deuteronomium und Priesterschrift zu erweisen. Wie die nachexilischenSchriftgelehrten methodisch verfahren sind, um die Einheit und Identität desGotteswillens divergierender Gesetze zum Trotz zu erweisen, zeigt die chronistischePassafestüberlieferung in 2 Chron 35,12f. besonders deutlich:

„(V.12) Die zum Brandopfer bestimmten Stücke legten sie beiseite und gabensie den Familien des Volkes, damit sie JHWH dargebracht wurden, wie es imBuch Mose vorgeschrieben war. Ebenso machten sie es mit den Rindern.(V.13) Sie kochten das Passa im Feuer dem Gesetz gemäß. Die heiligenGaben kochten sie in Kesseln, Töpfen und Schüsseln und brachten sie eilendszu allen Angehörigen des Volkes“ (2 Chron 35,12f.).

Die Forderung, Fleisch im Feuer zu kochen, ist widersprüchlich und erklärt sich nuraus der spezifischen Rechtshermeneutik der chronistischen Schriftgelehrten. Diepriesterschriftliche Passaüberlieferung fordert in Ex 12,9:

Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel 479

„Ihr sollt nicht davon (i.e. vom Passa) roh essen oder im Wasser gekocht,sondern über dem Feuer geröstet“.

Die Passagesetzgebung des Deuteronomiums fordert in Dtn 16,7 dagegen:

„Du sollst es (i.e. das Passa) kochen und essen an dem Ort, den JHWH direrwählt hat“.

Will der chronistische Autor eine Passagesetzgebung in Anwendung bringen, die,wie er selbst sagt, „im Buch Mose vorgeschrieben“, d.h. schriftgemäß war, so stehter vor einem Dilemma: Welche der sich widersprechenden Passaanweisungen istschriftgemäß? Er fällt keine Entscheidung, was auch unmöglich ist, da beide Passa-gesetze in der Tora des Pentateuch, im „Buch Mose“ stehen, also den offenbartenGotteswillen zum Ausdruck bringen. Vielmehr zieht er beide Gesetze zusammenund kommt so zu der widersprüchlichen Aussage, das Fleisch sei im Feuer zukochen34. In 2 Chron 35,7 werden Dtn 16,2 und Ex 12,5 in bezug auf die Passatiere,in 2 Chron 35,6.11, Dtn 16,2 und Ex 12,3f.7 in bezug auf die Alternative vonFamilienritus und Begehung am Tempel ausgeglichen. Dieser innerbiblischenExegese nachexilischer Schriftgelehrsamkeit geht es wie ihren Nachfolgern imrabbinischen Judentum um den Nachweis der Integrität und Einheit der Tora desMose und Offenbarung JHWHs.

In der Passagesetzgebung des Heiligkeitsgesetzes (Lev 17-26)35 in Lev 23,5-8werden ebenfalls priesterschriftliche wie deuteronomische Gebote aufgenommenund vermittelt, wobei das Verfahren methodisch aber komplexer ist als in 2 Chron35:

„(V.5) Im 1. Monat, am 14. Tage des Monats in der Abenddämmerung istPassa für JHWH. (V.6) Und am 15. Tage dieses Monats ist das Mazzotfestfür JHWH. Sieben Tage sollt ihr Mazzot essen. (V.7) Am ersten Tage findetfür euch eine heilige Versammlung statt. Keine Berufsarbeit dürft ihr ver-richten. (V.8) Sieben Tage bringt ihr Feueropfer dar für JHWH. Am 7. Tagefindet für euch eine heilige Versammlung statt. Keine Berufsarbeit dürft ihrverrichten“ (Lev 23,5-8).

Die deuteronomischen und priesterschriftlichen Passagesetze sind widersprüchlich.Für die deuteronomische Überlieferung in Dtn 16,1-8 ist das Passa ein am Zentral-

34 Cf. dazu E. Otto, Kritik der Pentateuchkomposition, ThR 60, 1995, (163-191) 169f.35 Zum Heiligkeitsgesetz cf. E. Cortese, L’exegesi di H (Lev. 17-26), Rivista Biblica 29, 1981,

129-146; E. Otto, Das „Heiligkeitsgesetz“ Leviticus 17-26 in der Pentateuchredaktion, in: W.Thiel u.a. (Hg.), Altes Testament. Forschung und Wirkung. Festschrift für H. Graf Reventlow,Frankfurt/Main, 65-80; ders., Theologische Ethik des Alten Testaments (s. Anm. 8), 233-256;ders., Innerbiblische Exegese im Heiligkeitsgesetz Levitikus 17-26, in: H.-J. Fabry/H.-W.Jüngling (Hg.), Levitikus als Buch, BBB 119, Berlin 1999, 125-196; Chr. Nihan, From PriestlyTorah to Pentateuch. A Study in the Composition of the Book of Leviticus, FAT II/25,Tübingen 2007; E. Otto, Das Buch Levitikus zwischen Priesterschrift und Pentateuch, ZAR 14,2008 (im Druck).

Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel480

heiligtum zu feierndes, mit dem Mazzotfest kombiniertes Wallfahrtsfest, für diePriesterschrift aber ein Familienritus unter Streichung des Mazzotfestes, wobei diePriesterschrift sich direkt kritisch mit Dtn 16,1-8 auseinandersetzt, um das deutero-nomische Passa-Mazzotfestgesetz zu korrigieren. Ex 12,8b

„zusammen mit Ungesäuertem und dazu (‘al) Bitterkräutern sollen sie es (i.e.das Passa) essen“

nimmt Dtn 16,3

„sieben Tage lang sollst du dazu (‘al) Ungesäuertes essen“

auf und Ex 12,10

„und ihr sollt davon bis zum Morgen nichts übrig lassen, und wenn davonetwas übrig geblieben ist, sollt ihr es bis zum Morgen im Feuer verbrennen“

knüpft an Dtn 16,4b

„und von dem Fleisch, das du am Abend des ersten Tages geschlachtet hast,darf bis zum Morgen nichts übrig bleiben“

an, Ex 12,11aba

„und ihr sollt es in Eile (beh̋ipp@zôn) essen“

schließlich an Dtn 16,3abba

„Brot des Elends, denn in Eile (be˝hipp@zôn) bist du aus dem Land Ägyptenauszogen“.

Mit den Anknüpfungen sind Korrekturen verbunden, die der Umwandlung des Passavon einem zentralisierten Wallfahrtsfest in eine Familienfeier unter Eliminierungaller Hinweise auf ein Mazzotfest dienen. Ex 12,8b.9 korrigiert die deuteronomischeAnweisung in Dtn 16,7a, das Opferfleisch zu kochen, zugunsten ihres Röstens imFeuer, und Ex 12,5 die Anweisung in Dtn 16,2, auch Großvieh zu schlachten,zugunsten der Beschränkung auf Kleinvieh. Die deuteronomischen Zen-tralisationsformeln in Dtn 16,2.6.7 werden in der priesterschriftlichen Passagesetz-gebung konsequent übergangen und in Ex 12,3f. durch die Anweisung, das Passa inden Familien zu feiern, ersetzt. Die Passa- und Mazzotfestgesetze in den Ergänzun-gen zur Grundschrift der Priesterschrift und im Heiligkeitsgesetz dienen dem Aus-gleich zwischen diesen Konzeptionen von Priesterschrift und Deuteronomium. InEzechiel 45,21a.23f. wird das Passa bereits wieder als ein am Jerusalemer Tempelzentriertes Fest interpretiert, das auf den 14. I. datiert mit einem siebentägigen Maz-zotfest verbunden ist. Dem entspricht die Verbindung von Passa und Mazzotfest inden Ergänzungen der Priesterschrift in Ex 12,18-20 (PS). Einen weiteren Schritt derReintegration der deuteronomischen Passa-Mazzotfestgesetzgebung in das Passage-setz der Priesterschrift und der damit verbundenen Rehabilitierung des Mazzotfestesvollziehen die Deuteronomium und Priesterschrift ausgleichenden Hexateuch-/

Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel 481

Pentateuchredaktoren als Autoren des Heiligkeitsgesetzes, indem sie Passa undMazzotfest als gleichberechtigte Begehungen nebeneinander stellen. Das „Passa fürJHWH“ wird in Lev 23,5 an Ex 12,2.6 anknüpfend auf den frühen Abend des 14. I.datiert, wobei mit „in der Abenddämmerung“ Ex 12,6bb zitiert wird. Wird das Passawie das Mazzotfest im Festkalender des Heiligkeitsgesetzes unter die Jahresfestegerechnet, ist der deuteronomische Festkalender Dtn 16,1-17 vorausgesetzt, wobeidie deuteronomische Datierung des Beginns des Passa-Mazzotfestes auf den„Neumond“ des Monats Abib36 zugunsten der priesterschriftlichen Datierungkorrigiert wird. Vom „Passa für JHWH“ am Abend des 14. I. abgehoben ist in Lev23,6 der Beginn des siebentägigen Mazzotfestes am 15. I. Die Autoren desHeiligkeitsgesetzes waren aber über die Harmonisierung des deuteronomischen undpriesterschriftlichen Passagesetzes hinaus mit dem weiteren Problem konfrontiert,daß bei der Wiedereinführung des Mazzotfestes in die Passagesetzgebung desHeiligkeitsgesetzes auch die vorpriesterschriftliche Mazzotfestgesetzgebung in Ex34, die die Grundlage für die Reformulierung in Dtn 16,1-8 abgab37, integriertwerden mußte. Mit der Bezeichnung „Mazzotfest“, die weder in Ezechiel 45 noch inDtn 16,1-8 und der Priesterschrift in Ex 12 belegt ist, greifen die Autoren desHeiligkeitsgesetzes auf die älteste im Pentateuch überlieferte Mazzotfestgesetz-gebung in Ex 34,1838 zurück und führen sie in die Gesetzgebung des Heiligkeits-gesetzes ein, um, sowohl Priesterschrift als auch Deuteronomium jeweils korrigie-rend, das Mazzotfest in seiner Eigenständigkeit zu unterstreichen. Entsprechend wirdin dem wörtlichen Zitat von Dtn 16,3ab „du sollst sieben Tage Ungesäuertes dazu(‘@l@jw) essen“ in Lev 23,6b das „dazu“ fortgelassen, um die Eigenständigkeit desMazzotfestes Ex 34 entsprechend zu unterstreichen und die vordeuteronomischeFormulierung in Ex 34,18 (par. 23,15)39 wieder zu Ehren zu bringen. So werden dievordeuteronomische Mazzotfestgesetzgebung in Ex 34, die deuteronomische Passa-Mazzotfestgesetzgebung in Dtn 16 und die priesterschriftliche Passafestgesetz-gebung einschließlich ihrer Zusätze (PS) in Ex 12 zusammengeführt. Das Bemühen,nicht nur das deuteronomische Programm korrigierend mit dem priesterschriftlichenzu vermitteln, sondern auch die vordeuteronomische und vorpriesterschriftlicheKernüberlieferung der Sinaiperikope zu integrieren, kennzeichnet die Hermeneutik

36 Cf. dazu E. Otto, Das Mazzotfest in Gilgal, BWANT 105, Stuttgart 1975, 182; ders., ArtikelFeste und Feiertage II. Altes Testament, TRE XI, 1983, (96-106) 97.

37 Cf. dazu E. Otto, Artikel pasa˝h/pæsa˝h, ThWAT VI, 1989, 659-682; J.C. Gertz, Die Passa-Massot-Ordnung im deuteronomischen Festkalender, in: T. Veijola (Hg.), Das Deuteronomiumund seine Querbeziehungen (s. Anm. 31), 56-80; anders T. Veijola, The History of the Passoverin the Light of Deuteronomy 16,1-8, ZAR 2, 1996, 53-75.

38 Zur Geschichte des Mazzotfestes cf. E. Otto, Das Mazzotfest (s. Anm. 36), 175ff.; ders., ArtikelFeste und Feiertage (s. Anm. 36), 96f.

39 Zum literarischen Verhältnis von Ex 34,18 zu Ex 23,15 cf. E. Otto, Artikel ÷æba‘/÷@bu‘ôt,ThWAT VII, 1993, (1000-1027) 1021ff.; ders., Das Deuteronomium (s. Anm. 11), 324-327.Zur Rezeption von Ex 24,18-26* in Dtn siehe E. Otto, Gottes Recht (BZAR 2), 24-29 („Exkurs:Ex 23,14-18 oder Ex 34,18-26* als Quelle des dtn Deuteronomiums“).

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der Autoren des Heiligkeitsgesetzes, die im Horizont einer umfassenden, Priester-schrift und Deuteronomium vereinigenden Hexateuch-/Pentateuchredaktion anzusie-deln sind40.

Die Hexateuch-/Pentateuchredaktion hat ihrer Passa- und Mazzotfestgesetz-gebung in Lev 23,5-8 entsprechend auch in die ihr vorgegebene priesterschriftlichePassagesetzgebung einschließlich ihrer Erweiterungen durch priesterschriftlichesSondergut in Ex 12,1-14aa.18-20 eingegriffen. In Lev 23 werden die Gesetze derErstlingsgabe (Lev 23,14), des Laubhüttenfestes (Lev 23,41) und des Versöhnungs-tages (Lev 23,31) jeweils durch die Formel

„ein ewiges Gesetz ist es für eure Geschlechter in allen euren Wohnsitzen“

abgeschlossen. Nur in der Passa- und Mazzotfestgesetzgebung in Lev 23,5-8 fehltein Abschluß durch diese Formel. Das bedarf der Erklärung. Der Hexateuch-/Penta-teuchredaktor hat sie in Ex 12,14abb an die priesterschriftliche Passagesetzgebung,die mit Ex 12,14aa endet, angefügt und durch die Streichung des Motivs der„Wohnsitze“ dem Kontext des Ägypten-Passa angepaßt:

„Und ihr sollt es (i.e. das Passa) als Fest für JHWH feiern. Als ewiges Gesetzfür eure Geschlechter sollt ihr es feiern“.

In Ex 12,17 schließt eben diese Formel, ebenfalls vom Hexateuch-/Pen-tateuchredaktor eingeführt, die Mazzotfestgesetzgebung ab. Entsprechend wird inLev 23,5-8 auf eine derartige Formel verzichtet. Durch die Anfügung der Formel inEx 12,14abb an den Abschluß des priesterschriftlichen Passagesetzes wird diese vonder anschließenden Mazzotfestgesetzgebung in Ex 12,15-17 abgesetzt, die derPentateuchredaktor dem Nebeneinander von Passa- und Mazzotfestgesetzgebung inLev 23,5-8 entsprechend an die priesterschriftliche Passagesetzgebung anfügte. Wiein Lev 23,6 bezieht sich die Zählung der sieben Tage des Mazzotfestes in Ex 12,15auf den 15. I., so daß die Ergänzung von PG durch PS in Ex 12,18-20, die dasMazzotessen als Fortschreibung von Ex 12,8b (PG) mit dem 14. I. beginnen läßt,korrigiert wird. Da Ex 12,18-20 (PS) in Verbindung mit Ex 12,8b nicht direkt einerKonzeption, das Mazzotfest gleichberechtigt neben das Passa zu stellen, wider-sprach, konnte der Hexateuch-/Pentateuchredaktor Ex 12,18-20 mit dieser Korrekturim Text stehen lassen. In der vom Hexateuch-/Pentateuchredaktor in Ex 12,15-17eingefügten Mazzotfestgesetzgebung zitiert er mit der Forderung, sieben Tage langGesäuertes zu essen, Lev 23,6b, während die Fortsetzung in Ex 12,15abb an Ex12,19 anknüpft. Ex 12,16 verankert die Ordnung der „heiligen Versammlung“ (Lev23,7.8b) bereits in der Passagesetzgebung in Ägypten und präzisiert das Verbot derBerufsarbeit in Lev 23: Nur das zur Nahrung für den Tag Notwendige dürfe zube-reitet werden – eine Präzisierung, ohne die die Ruhetagsbestimmungen in Lev 23 gar

40 Cf. dazu E. Otto, Das Deuteronomium zwischen Pentateuch und Hexateuch. Studien zu Penta-teuch und Hexateuch im Lichte des Deuteronomiumrahmens, FAT 30, Tübingen 2000, 26ff.156ff. 243ff.; ders., Das Gesetz des Mose (Darmstadt 2007), 194ff.

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nicht funktionieren, da sonst die Differenz zwischen dem absoluten Arbeitsverbotam Versöhnungstag (Lev 23,32) und den übrigen Verboten der Berufsarbeit vagebliebe.

Das vordeuteronomische Mazzotfest (Ex 34,18) wird in der deuteronomischenPassa-Mazzotfestgesetzgebung (Dtn 16,1-8) mit dem Familienritus des Passavereinigt und beide Begehungen als ein Fest am Zentralheiligtum als Wallfahrtsfestzentralisiert. Die nach der Zerstörung des Ersten und vor Errichtung des ZweitenTempels verfaßte Grundschrift der Priesterschrift41 trennt erneut das Passa vomMazzotfest und verlagert es wieder als Familienritus an seinen Ursprungsortzurück42, während das Mazzotfest eliminiert wird. Schon die Ergänzungen derPriesterschrift (PS), die die Gesetzgebung der Kultpraxis nach Errichtung desZweiten Tempels in den Horizont der Priesterschrift einbringen, rehabilitieren dasMazzotfest, ein Vorgang, der sich in der Passa-Mazzotfestgesetzgebung desHeiligkeitsgesetzes fortsetzt: Nunmehr tritt das Mazzotfest gleichberechtigt nebendas wieder zu einem Wallfahrtsfest zentralisierten Passa. In dieser Entwicklung derPassa-Mazzotfestgesetzgebung der Hebräischen Bibel verbinden sich auf komplexeWeise kultische Programmatik mit der Notwendigkeit, die sich aufgrund des Aufund Ab der Geschichte des Jerusalemer Tempels verändernde Kultpraxis inGesetzesform zu fassen. Mit der Versammlung der so historisch ausdifferenziertenPassa-Mazzotfestgesetze in einer Tora mußte sich die Aufgabe stellen, sie zu harmo-nisieren und als Ausdruck des einen, identischen Gotteswillens zusammenzufassen.Dieser Aufgabe haben sich die Schriftgelehrten der Hexateuch-/Pentateuchredaktionim Heiligkeitgesetz unterzogen. Sie ist also bei weitem schwieriger als die, der sichin spätvorexilischer Zeit die Autoren des Deuteronomiums gestellt hatten. Schonallein die Vielzahl der aufgrund der turbulenten Geschichte Judas vom 7. bis zum 5.Jh. v. Chr. stark divergierenden Gesetzestexte forderte eine komplexe Methodik derSchriftauslegung. Die Analyse von Lev 23,5-8 hat einen Eindruck von dieserelaboriert-komplexen Methodik der biblisch-halachischen Rechtshermeneutikgeliefert.

IV. Ausblick: Tradition und Innovation des Rechts als Problem derRechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel

Bereits die Autoren und Tradenten der keilschriftlichen Rechtssatzsammlungenhaben vor dem Problem gestanden, wie die jeweils im Rahmen des Schulcurricu-lums kanonisierten Gesetzestraditionen43 zu modernisieren seien, ohne ihre Autorität

41 Zum Forschungsstand cf. E. Otto, Forschungen zur Priesterschrift, ThR 62, 1997, 1-50; ders.,Das Buch Levitikus (ZAR 14).

42 Zur Geschichte des Passa cf. E. Otto, Artikel Pascha I. AT, NBL III, Zürich 1997, 77-80; ders.,Artikel pasa̋h/pæsa̋h (s. Anm. 37), 659-682.

43 Zum Kanonbegriff in Relation zum keilschriftlichen Schulcurriculum cf. W.W. Hallo, Origins.

Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel484

infrage zu stellen. Sie haben diese rechtshermeneutische Aufgabe nicht zuletztdadurch gelöst, daß sie in komplexen Redaktionsstrukturen die jeweils vorge-gebenen Rechtssätze mit den korrigierenden Rechtsnovellen so zusammengeordnethaben, so daß durchaus erkennbar war, was jeweils Tradition und aktualisierendeFortschreibung war44. Da keilschriftliche Rechtssätze nicht präskriptive Gesetzes-kraft hatten, sondern als Teil des Schulcurriculums der Ausbildung von Juristendienten45, war das ein eher unproblematisches Verfahren der Rechtsreformierung. Inder Hebräischen Bibel war die rechtshermeneutische Aufgabe erheblich komplizier-ter. Mit der Theologisierung des Rechts, die sich bereits im Bundesbuch niederge-schlagen hatte, erhielt das auch in Juda zunächst im Rahmen gelehrter Kreise, dieder Weisheit nahe standen, tradierte deskriptive Recht präskriptive Funktion46. Mitder Theologisierung verband sich darüber hinaus das Problem, daß jede Rechts-revision nun zu einer Widersprüchlichkeit des sich im Recht zum Ausdruckbringenden Gotteswillens führen konnte – Widerspruchsfreiheit aber als notwendi-ges Wesensmerkmal des Gotteswillens gelten mußte: Gott darf sich im Recht nichtwidersprechen47. Die spätvorexilischen Autoren des deuteronomischen Gesetzeslösten bei der Reformulierung der Tradition in Gestalt des Bundesbuches dieseAufgabe so, daß sie das Deuteronomium zum hermeneutischen Schlüssel derInterpretation des Bundesbuches machten und das Bundesbuch als reformuliertesGesetz das Deuteronomium als reformulierendes Gesetz ergänzen sollte, ja esAnzeichen dafür gibt, daß der Vorrang des ausgelegten Textes vor dem auslegendenauch dann gewahrt werden sollte, wenn er im Horizont des revidierenden Textesgelesen wurde. Die Aufgabe der Autoren des Heiligkeitsgesetzes war in dergewandelten Situation der nachexilischen Zeit ungleich komplizierter. Jetzt galt esnicht nur, einen einzigen Text zu reformulieren, sondern eine Mehrzahl ausdifferen-

The Ancient Near Eastern Background of Some Modern Western Institutions, SHANE 6, Lei-den/New York 1996, 144ff. (cf. dazu meine Rezension in ZAR 3, 1997, 250-258).

44 Siehe dazu in diesem Band, 341-366.45 Cf. E. Otto, Rechtsgeschichte der Redaktionen im Kodex E÷nunna und im „Bundesbuch“. Eine

redaktionsgeschichtliche und rechtsvergleichende Studie zu altbabylonischen und altisraeliti-schen Rechtsüberlieferungen, OBO 85, Fribourg/Göttingen 1989, passim.

46 Eine entscheidende Rolle spielt dabei ähnlich wie im hellenischen Raum die für das judäischeRecht im Gegensatz zu dem Mesopotamiens charakteristische Königsferne, die in der Ausein-andersetzung judäischer Intellektueller im 7. Jh. v. Chr. mit der neuassyrischen Königsideo-logie und der mit ihr verbundenen Rechtssetzungskompetenz des Königs Programm wurde; cf.E. Otto, Das Deuteronomium (s. Anm. 11), 364ff.; ferner ders., Artikel Recht/Rechtstheologie/Rechtsphilosophie I. Recht und Rechtswesen im Alten Orient und im Alten Testament, TREXXVIII, 1997, 197-209, sowie in diesem Band, 170-185.

47 Daß Gott sich seine eigenen Vorhaben gereuen läßt, ist in der Hebräischen Bibel durchaus ge-dacht worden – insbesondere in prophetischer Überlieferung; cf. J. Jeremias, Die Reue Gottes.Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, BThSt 31, Neukirchen-Vluyn 21997. Als rechts-hermeneutisches Motiv zur Rechtsrevision ist die Reue Gottes aber aus gutem Grund in der He-bräischen Bibel niemals verwendet worden. Zu Hos 11 als Schlüsseltext des Motivs der göttli-chen Reue cf. auch Verf., Theologische Ethik des Alten Testaments (s. Anm. 8), 109-111;ders., Krieg und Frieden (s. Anm. 3), 77ff.

Rechtshermeneutik in der Hebräischen Bibel 485

zierter Rechtstexte unter dem Aspekt der Einheit des Gotteswillens in der Tora desPentateuch zu vermitteln und durch ein komplexes Geflecht der FortschreibungenRechtstexte so aufeinander zu beziehen, daß sie sich wechselseitig auslegten. DemHeiligkeitsgesetz als Vermittlung von Dekalog, Bundesbuch, Deuteronomium undPriesterschrift sowie als Abschluß der Sinaiperikope der Hexateuch-/Pentateuch-redaktion kam die Funktion eines hermeneutischen Schlüssels in diesem Geflecht zu.Alles Recht mußte nun am Sinai offenbart und mosaisch sein. Jede Innovation vonRecht mußte noch lange über die Hexateuch-/Pentateuchredaktion hinaus am Sinaiverortet werden. Erst in Num 27,1-1148 wurde auf die Möglichkeit der Rechts-innovation nach Abschluß der Offenbarung der Gesetze am Sinai reflektiert: DieTöchter Zelofhads tragen Mose das Problem vor, daß keine Erbsöhne vorhandensind. Wie also könne das Erbland im Besitz der Sippe gehalten werden? DasErgebnis ist die Zulassung von Töchtern als Erben, für den Fall daß keinemännlichen Nachkommen vorhanden sind. In Num 36,1-12 wird diese Regelungnoch einmal fortgeschrieben. Num 27,1-11 läßt nämlich die Frage offen, wasgeschehen solle, wenn die Erbtöchter aus der Sippe heraus in eine andere heiraten,das Erbland also auf diese Weise der Sippe verloren gehe. Num 36,1-12 stipuliert,daß Erbtöchter nur innerhalb ihrer Sippe heiraten dürfen. Diese Rechtsinnovationenverzichteten explizit zu ihrer Legitimation auf die Fiktion sinaitischer Offenbarungund erleichterten damit die Innovation des Rechts nach der Festschreibung der Tora,wohl aber wurde die Fiktion des mosaischen Ursprungs als Ausdruck göttlicherLegitimation des Rechts festgeschrieben. Nur mittels dieser Fiktion, daß auf eineAnfrage hin Mose im Sinne einer Rechtsnovelle entschieden habe, ließ sich dasRecht fortentwickeln. Die tatsächlich die Rechtsentwicklung vorantreibenden Kreiseund die mit ihnen verbundenen Interessen wurden so eher verschleiert als offen-gelegt. Wer durfte in nachexilischer Zeit für sich in Anspruch nehmen, mitmosaischer Autorität zu sprechen? Die Antworten auf diese Frage blieben strittig,was zum Zerfall des nachexilischen Judäa in verschiedenen Parteien führen mußte.Spätestens aber nachdem in der den Pentateuch von den Vorderen Prophetenabkoppelnden Pentateuchredaktion mit dem Tod des Mose die verschriftete Tora desPentateuch seine Funktion übernahm (Dtn 31,45-52; 34*), mußte auch diese Formder Rechtsnovellierung durch die Berufung auf Mose als Propheten an ihr Endekommen. Was blieb, war der Rückgriff auf die bereits im Pentateuch entwickeltenrechtshermeneutischen Regeln zur Novellierung des Rechts als Gottesrecht, das sichaber so weit von der kanonisierten Grundlage entfernen konnte, daß die Fiktion einesmündlich tradierten mosaischen Rechts neben der Tora eine Vereinfachung derkomplexer werdenden rechtshermeneutischen Aufgaben zu sein schien.

48 Cf. dazu R. Westbrook, Biblical and Cuneiform Law Codes, RB 92, 1985, (247-264) 261-264.Man wird Num 27,1-11 nicht mit R. Westbrook als Zeugnis dafür auswerten können, daß diebiblischen Rechtssätze in Gerichtsentscheidungen ihren Ursprung haben, da der hier zuregelnde Fall Gottesentscheid ist. Wohl aber wird hier die göttliche Autorität für eineNovellierung des Rechts in Anspruch genommen.


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