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Vom Drama zum Game: Elemente einer historischen Theorie audiovisuellen Erzählens

Date post: 12-May-2023
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Clash of . Realities
Transcript

� Clash of r:-�. Realities

5

Inhalt

Vorwort der Herausgeber 9

Grußwort 13 Prof. Dr. Seeßelberg, Präsident der Fachhochschule Köln

>>THEORIE UND EMPIRIE DIGITAlER SPIElE

Ludification/Ludefaction 19 The Ambivalence of Contemporary Play and the Fracking of the Radical lmaginary Graeme Kirkpatrick

Vom Drama zum Game. 29 Elemente einer historischen Theorie audiovisuellen Erzählens Gundolf 5. Freyermuth

Design Harmony in (Serious) Games 39 David Farrell

Children's and Adolescents' Learning in the Context of Recreational Video Game Play 51

Fran C. Blumberg

Welt-Spiele 61 Aspekte der Produktion, Distribution und Vermarktung von nicht-westlichen Computerspielen Stefan Werning

>>INHAlT

>> SPIELWELT-WELTSPIEL

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>> DIGITALE SPIELE ALS KULTURELLES FAKTUM

Die gamifizierte Gesellschaft 73 Wie Spielmechaniken beginnen, unseren Alltag zu bestimmen. Alexander Pieiffer und Thomas Wembacher

Games in Motion 85 Mobile Spiele im Alltag Claudia Streußnig, Matthias Wieser und Rainer Winter

Wenn Spielen mehr ist 95 Dominik Härig

Kommt das Spiel in die Kultur zurück? 105 Überlegungen zur kulturellen Bedeutung aktueller Gam ification-Tendenzen Nina Grünberger

>> ZUR PÄDAGOGIK DIGITALEN SPIELENS

Making lt Personal 117 Towards A Customized Experience For Impact Games. Katharina Tillmanns

Spielend über Menschenrechte lernen 135 Serious Games für die Menschenrechtsbildung Sonja Gabrief

Crowd Control für die Gaming-Community: 145 Formen der Begegnung mit unerwünschtem Verhalten in M M OGs Maike Groen und Arne Sehröder

Digital Streetworking 153 Ethische Aspekte nicht-transparenter Lernintentionen bei

"aufsuchenden" Lern- und Bildungsangeboten innerhalb digitaler Spiele Steifen Winny

Zocken mit Sinn 175 Angelika Beranek und Stephan Schölzel

Minecraft.edu Erstellung von Lernszenarien mit Hilfe von Minecraft Bericht über ein medienpädagogisches Projekt Daniel Zils

Adventure in 3D Selbstgemacht mit Unity Martin Müllner

Autorinnen und Autoren

>>INHALT

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>> FREYERMUTH >>VOM DRAMA ZUM GAME

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Vom Drama zum Game Elemente einer historischen Theorie audiovisuellen Erzählens

Gundolf 5. Freyermuth

Seit Spiele im Prozess ihrer Digitalisierung begannen, narrativ zu wer­den, will die Debatte um die Vereinbarkeit von Spielen und Erzählen nicht abreißen. Zunächst wurde sie primär im Kontext des Game Designs geführt, seit den späten neunziger Jahren auch in den Game Studies. Wenn allerdings dieselben Fragen immer wieder neu gestellt werden, indiziert das in der Regel, dass keine der existierenden Antworten zu befriedigen vermag. Ein wesentlicher Grund für dieses Ungenügen dürfte in der weitgehenden Konzentration auf den Versuch liegen, das Verhältnis von Spiel und Erzählung systematisch zu bestimmen. Was aber ein Spiel ist und wie es sich designen lässt, unterliegt stetem historischem Wandel-und ebenso, was eine audiovisuelle Geschichte ist und wie sie sich erzählen lässt. Beider Wandel beschleunigt und radikalisiert sich zudem noch im aktuellen Übergang von analogen zu digitalen Medien.

Im Anschluss an eine rudimentäre Darstellung der Auseinanderset­zung in Game Design (1) und Game Studies (2) werde ich daher die Entwicklung audiovisuellen Erzählens in der-westlichen-Neuzeit und damit auch die Vorgeschichte und Genese narrativer digitaler Spiele in sechs knappen Thesen zu skizzieren (3-8), um als Resümee die Emergenz einer neuen audiovisuellen Erzählform zu behaupten, die gerade auf der Verbindung von Spiel und Erzählen beruht (9).

1 Game Design vs. Narrative und Audiovisual Design

Seinen Ursprung hat das problematische Verhältnis von Spielen und Erzählen in den erfolgreichen Text-Adventures der 1970er Jahre (vor allem CoLossAL CAvE AovENTURE, 1972; ZoRK, 1977; AovENTURELAND, 1978). Schon ihnen wurde vorgeworfen, was Jesse Schell jüngst deren " Lüge "

nannte: dass sie zu Interaktion und Gameplay zwar einluden, beides aber-noch-nicht wirklich ermöglichten.1 Im Laufe der 1980er Jahre gab das Adventure-Genre dann die Konzentration auf Text auf und rüs­tete sich zunächst visuell, schließlich-dem Vorbild der Hollywoodfilme folgend-audiovisuell auf. Führend in diesem Prozess waren Studios wie LucasArts (INDIANA JoNEs AND THE LAsT CRusADE: THE GRAPHie AovENTURE, 1989) Cinemaware ( Ir CAME FROM THE DmRT, 1989) oder Sierra Online (KING's

QuEST V, 1990), die sich nicht nur ästhetisch, sondern ebenfalls organi­satorisch und technisch an der Filmproduktion orientierten.2 Gerade

>> SPIELWELT- WELTSPIEl

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in den aufwändigsten und kommerziell erfolgreichsten Produktionen trat-dem zeitgenössischen Ideal von "interactive fiction " und "inter­active movie " folgend und technisch ermöglicht durch CD-ROMs- das Gameplay zugunsten linear erzählender Cutscenes zurück.

Nicht wenige Game Designer und auch Spieler standen dieser Entwick­lung kritisch gegenüber. Industrie-Veteran Chris Cravvford, Begründer sowohl des Journals of Computer Game Design ( 1987) wie der Game Developer Conference (GDC, 1988), beklagte zum Beispiel das " nasty arms race over graphics " (Parkin 20 13) und beschuldigte die Game-Industrie

-in Anspielung auf den Freud'schen Penisneid-, sie leide unter einem unglücklichen "movie envy ", einem Filmneid.3 Eine Gegenbewegung in der Spieleproduktion selbst setzte dann in den frühen neunziger Jahren mit dem neuen Genre der First-Person Shooter ein, popularisiert vor allem von dem Studio id Software mit seinen Spielen DooM ( 1993) und QuAKE

( 1996): "[l]n a total rejection of the approach of the movie-inspired CD full-motion video epics flooding onto the market at the time, ld (sie!) abandoned the idea of story almest entirely. " (Donovan 20 10: loc. 6053) Von id-Mitbegründer John Carmack wird kolportiert, er habe im Hinblick auf die Bedeutung des Geschichtenerzählens digitale Spiele gar mit Por­nofilmen verglichen: "Story in a videogame is like story in a porn movie. lt's expected to be there, but it's not that important. "4

2 Ludologie vs. Narratologie

Aus dem Game Design schwappte der schwelende Konflikt zwischen Befür­wortern und Gegnern audiovisueller Narration während der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in die Game Studies über.5 Etabliert wurde er in zwei frühen Schlüsseltexten der sich gerade formierenden Disziplin, Espen Aarseths Cybertext: Perspectives of Ergodie Literature ( 1997) und Janet H. Murrays Harn­let on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace ( 1998). Während Aarseth eine "typology of cybertexts" entwickelte, die erzählerische Medien wie Literatur, Theater oder Film, die Interpretation erfordern, kategorial von digitalen Spielen trennte, die Konfiguration erfordern (Aarseth 1997: 62-65), begriff Murray den Computer-das digitale Transmedium-dank seiner vier besonderen Eigenschaften, prozedural, partizipatorisch, räumlich und enzyklopädisch zu sein, als ein genuin repräsentierendes und erzählerisches Medium (Murray 1997: 7 1ff). Diesen Gegensatz hat Frans Mäyrä als Urkons­tellation der Ludologie-Narratologie-Debatte beschrieben.6 Entfalten sollte sie sich dann, nachdem Gonzalo Frasca 1999 den Terminus II Ludologie" für

II the

yet non-existent ,discipline that studies game and play activities' " vorschlug (Frasca 1999) und Jesper Juul in seiner Masterarbeit A Clash Between Game and Narrative die weitgehende Unvereinbarkeit von Spiel und Narration behauptete: "Computer games are not narratives, but phenomena whose qualities are in exploration and repeatability.11 (Juul 1999).

>> FREYERMUTH >> VOM DRAMA ZUM GAME

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Die weitere Entwicklung digitaler Spiele im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts machte zwar deutlich, dass Spiel und Narration keineswegs so unvereinbar sind, wie die Ludologen zunächst meinten. Zur Entschär­fung des theoretischen Konflikts trugen zudem Henry Jenkins' diverse Konzeptionen narrativer Architektur und transmedialen Geschichten­erzähJens bei. 7 Doch gelöst ist die Frage, inwieweit Spiele Geschichten erzählen beziehungsweise ob sich Geschichten spielen lassen, bis heute keineswegs; weder in der künstlerischen Praxis des Game Designs noch in der wissenschaftlichen Reflexion der Game Studies.

3 Historische Bedingungen audiovisuellen Erzählens

Während literarisches Erzählen imaginieren kann, was sich aufschreiben lässt, vermag audiovisuelles Erzählen auf der Bühne oder im analogen Film nur Handlungen zu imaginieren, die sich auch in Szene(n) setzen lassen. Damit ist audiovisuelles Erzählen immer an eine Manipulation von Raum und Zeit gebunden, deren Freiheitsgrade vom Stand zeit­genössischer Medientechnik abhängig sind. Meine erste These zur Vereinbarkeit von Spiel und Erzählung lautet daher: Mag auch eine gewisse Unvereinbarkeit von analogem Spiel und analogem Erzählen bestehen, mit den neuen Mitteln digitaler Bild- und Tonproduktion scheint ein neues Medium zu entstehen, das einige der Begrenzungen überwindet, denen audiovisuelles Erzählen unter den Bedingungen mechanischer und industrieller Technologie unterlag, und sich damit nonlinearen Erzählweisen öffnet.

Solche neuen ästhetischen Formen, die Spielen und Erzählen zu integrieren vermögen, haben freilich, um erfolgreich zu sein, nicht minder als die älteren audiovisuellen Medien Bühne, Film und Fernse­hen oder auch die Literatur jenen Grundbedürfnissen zu entsprechen, die Erzählen seit Jahrtausenden in der menschlichen Kultur erfüllt. Was narrativ vermittelt wird, begreifen wir schneller und memorieren wir besser. Erzählen dient so dem Management und Transfer von Wissen, von Normen und Werten, Verhaltens- und Handlungsweisen. Es hilft, die Welt zu verstehen, indem es rationalen wie emotionalen Sinn stif­tet. Dabei scheint es gewissen Grundmustern zu folgen, zumindest in der westlichen Kultur: der Gewohnheit von Anfang, Mitte und Ende, wenn auch nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge, wie Jean­Luc Godard einmal bemerkte; den Stationen der Heldenreise, die mit einer Herausforderung beginnt, ihre Helden und Heldinnen vor eine Wahl stellt und mit einer Lösung der Herausforderung, des Konfliktes endet - der Erfüllung des zentralen Wunsches also, dass Geschichten Konsequenzen haben mögen, dass die Welt an ihrem Ende eine andere sei, als sie es an ihrem Anfang war.

>> SPIELWELT-WELTSPIEL

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4 Dramatik

Vor dem Film dominierten drei erzählerische Gattungen: das Lyrische, das Epische und das Dramatische, d.h. Poesie, Prosa und Theaterstü­cke. Die Bühne als einziges audiovisuelles Medium aber war-etwa im Vergleich zum Roman-in ihrer Befähigung, Geschichten zu erzählen, wesentlich dadurch eingeschränkt, dass sie ihre Fiktionen im Realraum und über Echtzeit-Aktionen inszenieren musste. Die Aufrüstung des Theaters in der mechanischen Epoche mit fortgeschrittenster Technik, die vor allem bessere Zeit- und Ortswechsel ermöglichen sollte - ei­gene Theaterbauten u.a. mit verschiebbaren Kulissen, Hebebühnen, künstlichem Licht, Vorhängen etc. -, vermochte diese Behinderung nur unwesentlich zu mindern. Zum dramatischen Ideal wurden insofern die berühmt-berüchtigte Einheit von Raum, Zeit und Handlung: eine lineare Kompression, die in direktem Gegensatz zum epischen Erzählen stand, dessen Reiz gerade die Ausdehnung über Zeit und Raum ausmacht, eine Ausdehnung, die zwar gewöhnlich chronologisch erfolgt, aber keineswegs auf solche Linearität verpflichtet ist.

Meine zweite These lautet: Vor der Industrialisierung der Medien war audiovisuelles Erzählen medientechnisch real, d.h. an die echt­zeitige Manipulation des Realraums gebunden, und tendierte daher medienästhetisch zur Dramatik.

5 Epik

Mit dem Film, das heißt der medientechnischen Befähigung zur Fixierung raumzeitlicher Handlungen und zu ihrer nachgängigen Manipulation durch Schnitt und Montage, erlangte audiovisuelles Erzählen gestei­gerte Möglichkeiten zur Manipulation von Zeit und Raum. Von dem Zeitpunkt seines Entstehens an experimentierte der Film denn auch mit allen drei tradierten Modi des Erzählens, dem Lyrischen, Epischen und Dramatischen. Spätestens aber seit der Einführung des Tons kon­zentrierte sich filmisches Erzählen wiederum auf dramatische Erzähl­strukturen - nicht zuletzt aus produktionstechnischen Gründen wie auch auf Grund der Bedingungen von Distribution und Rezeption, die, nachdem in der Anfangszeit des Films durchaus mit anderen Modellen experimentiert worden war, bald nahezu ausschließlich dem klassischen

"Vorstellungen"- Modell des Theaters folgten. Erst seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, wesentlich im Gefolge

der Einführung von Fernsehen, Videokassetten, DVDs und digitalem Strea­ming-d.h. als Resultat einer zunehmenden Privatisierung der Verfügung über Audiovisionen -, entwickelten einzelne Spielfilme sowie Spielfilm­und vor allem Fernsehserien epische Strukturen, wie sie dem Theater und auch dem Kino, so lange es dem theatralischen Vorbild verpflichtet bleibt,

>> FREYERMUTH >> VOM DRAMA ZU G

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weitgehend verschlossen sind: von der so genannten "sequel mania", die um 1980 einsetzte, bis zu den wahrhaft epischen Film- und TV-Serien der vergangenen fünfzehn Jahre. Inzwischen kennen wir erstmals in der Me­dien- und Kulturgeschichte audiovisuelle Erzählungen, deren komplexe narrative Strukturen sich in Umfang wie Qualität durchaus mit modernen literarischen Epen wie Balzacs menschlicher Komödie, Prousts Suche nach der verlorenen Zeit oder Telkiens Herrn der Ringe vergleichen lassen.

Meine dritte These besagt deshalb: Mit der Industrialisierung der Medien - mit Film und Fernsehen - wurde audiovisuelles Erzählen medientechnisch fotorealistisch d.h. an eine im Hinblick auf die Pro­duktion nachgängige und im Hinblick auf die Rezeption vorgängige Manipulation des gespeicherten Lichts und Tons gebunden, und konnte daher im Verein mit der Privatisierung der Rezeption sukzessive epische Qualitäten und Strukturen ausbilden.

6 Prozeduralität

Parallel zu diesem Prozess audiovisueller Episierung entstand mit dem digitalen Transmedium und dem in ihm realisierten Medium digitaler Spiele eine neue audiovisuelle Erzählform. Einerseits ist sie wiederum medientechnisch zu einer gesteigerten Manipulation von Zeit und Raum befähigt, andererseits aber wird ihre Freiheit zur Narration durch die ebenfalls medial gesetzte Partizipation des Spielers beschränkt. Drei­gegenüber analogen Medien und vor allem gegenüber analogen Spielen neue- Qualitäten kennzeichnen digitale Spiele.

Zum einen vermögen sie dank ihrer medialen Eigenschaften Systeme jedweder Art zu repräsentieren, d.h. sie können Systeme nicht nur -wie die Literatur-beschreiben und sie können sie auch nicht nur-wie Bildende Kunst und Fotografie, Theater, Film und Fernsehen-visuell oder audiovisuell darstellen. Vielmehr vermögen sie das Funktionieren sozio-kultureller (Teil-) Systeme virtuell zu simulieren und damit in­teraktiv erfahrbar zu machen. "This ability to execute a series of rules fundamentally separates computers from other media" (Bogost 2007: loc. 125), schreibt lan Bogost. Die mediale Affordanz zur Konstruktion dynamischer Modelle realweltlicher Prozesse nennt er Prozeduralität.8

Meine vierte These lautet: Digitale Spiele verfügen im Gegensatz so­wohl zu ihren analogen Vorläufern wie auch zu den linearen audiovisuel­len Medien über einen spezifisch systemischen Modus der Repräsentation.

7 Hyperepik

Zum zweiten gelang zwischen Anfang der siebziger und Anfang der neunziger Jahre in digitalen Spielen -ausgehend von Text-Adventures, aber bald nicht mehr auf dieses Genre und Textualität beschränkt-die

>> FREYERMUTH >> VOM DRAMA ZUM GAME

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weitgehend verschlossen sind: von der so genannten "sequel mania", die um 1980 einsetzte, bis zu den wahrhaft epischen Film- und TV-Serien der vergangenen fünfzehn Jahre. Inzwischen kennen wir erstmals in der Me­dien- und Kulturgeschichte audiovisuelle Erzählungen, deren komplexe narrative Strukturen sich in Umfang wie Qualität durchaus mit modernen literarischen Epen wie Balzacs menschlicher Komödie, Prousts Suche nach der verlorenen Zeit oder Telkiens Herrn der Ringe vergleichen lassen.

Meine dritte These besagt deshalb: Mit der Industrialisierung der Medien - mit Film und Fernsehen - wurde audiovisuelles Erzählen medientechnisch fotorealistisch, d.h. an eine im Hinblick auf die Pro­duktion nachgängige und im Hinblick auf die Rezeption vorgängige Manipulation des gespeicherten Lichts und Tons gebunden, und konnte daher im Verein mit der Privatisierung der Rezeption sukzessive epische Qualitäten und Strukturen ausbilden.

6 Prozeduralität

Parallel zu diesem Prozess audiovisueller Episierung entstand mit dem digitalen Transmedium und dem in ihm realisierten Medium digitaler Spiele eine neue audiovisuelle Erzählform. Einerseits ist sie wiederum medientechnisch zu einer gesteigerten Manipulation von Zeit und Raum befähigt, andererseits aber wird ihre Freiheit zur Narration durch die ebenfalls medial gesetzte Partizipation des Spielers beschränkt. Drei­gegenüber analogen Medien und vor allem gegenüber analogen Spielen neue- Qualitäten kennzeichnen digitale Spiele.

Zum einen vermögen sie dank ihrer medialen Eigenschaften Systeme jedweder Art zu repräsentieren, d.h. sie können Systeme nicht nur -wie die Literatur-beschreiben und sie können sie auch nicht nur-wie Bildende Kunst und Fotografie, Theater, Film und Fernsehen -visuell oder audiovisuell darstellen. Vielmehr vermögen sie das Funktionieren sozio-kultureller (Teil-) Systeme virtuell zu simulieren und damit in­teraktiv erfahrbar zu machen. "This ability to execute a series of rules fundamentally separates computers from other media" ( Bogost 2007: loc. 125), schreibt lan Bogost. Die mediale Affordanz zur Konstruktion dynamischer Modelle realweltlicher Prozesse nennt er Prozeduralität.8

Meine vierte These lautet: Digitale Spiele verfügen im Gegensatz so­wohl zu ihren analogen Vorläufern wie auch zu den linearen audiovisuel­len Medien über einen spezifisch systemischen Modus der Repräsentation.

7 Hyperepik

Zum zweiten gelang zwischen Anfang der siebziger und Anfang der neunziger Jahre in digitalen Spielen -ausgehend von Text-Adventures, aber bald nicht mehr auf dieses Genre und Textualität beschränkt-die

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Ausbildungverwobener multilinearer Erzählweisen bis hin zur Eröffnung vergleichsweise offener Handlungsräume, die sich in Vorläufern heutiger Sandbox-Spiele wie Mvsr auch bereits mehr oder weniger frei erkunden ließen. Diese komplexen Erzählstrukturen basieren auf Datenbanken und deren Strukturierung durch (proto-) narrative Algorithmen. Ihre Erzäh­lungen kennzeichnet, dass ihr Ablauf nicht exakt vorgegeben ist, sondern erst von den Spielenden auf ihrem Weg durchs Spiel in Interaktion mit dem strukturellen Handlungspotential-der Kombinatorik von Daten und Algorithmen-in einem virtuellen, ebenfalls algorithmisch konstruierten Erzählraum realisiert wird. Dieses eher räumlich als zeitlich orientierte Erzählen lässt sich im Vergleich zur Epik analog-linearer Audiovisionen als Hyperepik beschreiben. Das Präfix "hyper" bezeichnet dabei nichts anderes als in dem von Ted Nelson Mitte der 1960er Jahre gebildeten Kompositum "Hyperlink": eine direkte, interaktiv zu realisierende Refe­renz, die das Navigieren zwischen verknüpften Datenkomplexen erlaubt, ob es sich bei ihnen nun um Texte, Bilder oder 3D-Welten handelt.

Meine fünfte These lautet daher: Indem die Audiovisionen digitaler Spiele die vorgängige Manipulation von Raum und Zeit über Hardware - etwa die Zurüstung von Holzbühnen oder Schnitt und Montage von Zelluloid - durch die Möglichkeit zu echtzeitiger Manipulation von Soft­ware ersetzen, erlauben sie ihren Nutzern im Gegensatz zu den linearen audiovisuellen Medien Interaktion in und mit multi- oder nonlinearen, d.h. hyperepischen Erzählungen.

Um 1990 vollzog sich dabei ein Paradigmenwechsel: War für die erfolgreichsten narrativen Spiele der siebziger und frühen achtziger Jahre noch der Roman das vorrangige Vorbild gewesen, so übernahm um die Mitte der achtziger Jahre diese Rolle der Film und zwar in der Ausprägung, die er in Hollywood gefunden hatte. Indem digitale Spie­le allmählich von einem schrift- und grafikbasierten zu einem genuin audiovisuellen Medium wurden, begann die Phase der gegenseitigen produktionellen wie ästhetischen Beeinflussung von Spiel und Film.

8 Hyperrealismus

Zum dritten also strebten digitale Spiele nach fotorealistischer Bildqua­lität. Zunächst wurde versucht, Live-Action-Video oder hybrides Filmma­terial-gedrehte und digital nachbearbeitete Szenen-als Cutscenes in digitale Spiele zu integrieren, um die Immersion in deren Narrationen zu steigern. Dies geschah jedoch zum Preis von Linearität statt Hy­perepik und temporärer Passivität statt Interaktion. Im selben Maße aber, in dem der Spielfilm mit immer fotorealistischeren Animationen arbeitete, ersetzten vorgerenderte Computer Generated Images (CGI) auch in Games Live-Action-Aufnahmen. Um 1990 drang zudem in die kommerzielle Spieleproduktion, was seit den 1960er Jahren im Kontext

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digitaler Simulatoren entwickelt worden war: eine algorithmisch auto­matisierte Bildgenerierung in perspektivisch korrekter Abhängigkeit von den Blicken und (Inter-) Aktionen der Spielenden. Visuell zu sich selbst kam diese spezifische Befähigung prozeduraler Bildgenerierung zur subjektiven Perspektivierung im Genre der First- Person Shooter.

Jene Echtzeit-Animationen allerdings, die am bisherigen Ende der Entwicklung wie fotografiert erscheinen, stellen eine gänzlich neue Variante realistischer Bildproduktion dar: Nach der Durchsetzung des perspektivischen 2D-Realismus im Gefolge der Renaissance und des 2D- und 3D-Fotorealismus im 19. und 20. Jahrhundert entstanden mit der Digitalisierung stehende und laufende Bilder, die Eigenschaften des malerischen Realismus-dass sie keinen Index benötigen-mit de­nen des kameraproduzierten Fotorealismus verbinden: dass sie dessen Anmutung besitzen.9 Eine solche Bildlichkeit wurde seit den sechziger Jahren in der Pop- Malerei erprobt und Anfang der siebziger Jahre von der Kunstkritik als Hyperrealismus bezeichnet.10

Meine sechste These besagt: Seit ihrer Befähigung zum prozedura­len Hyperrealismus verfügen digitale Spiele über einen gänzlich neu­en Modus der Bildproduktion - die arbiträre, weil non-indexikalische Echtzeit-Generierung fotorealistisch anmutender Bilder und filmisch inszenierter 30-Handlungsräume, die sich von ihren Nutzern, indem sie unter multiplen prozeduralen Abläufe selektieren, "betreten" und interaktiv navigieren lassen.

9 Resümee

Audiovisuelles Erzählen in der Neuzeit kennt somit bislang drei Vari­anten: > ln der vorindustriellen Kultur entstand mit der Bühne ein audiovi­

suelles Erzählen, das real ist und dem Ideal des Dramatischen folgt. > ln der industriellen Kultur traten mit den gespeicherten linearen

Audiovisionen von Film und Fernsehen Erzählformen hinzu, die fotorealistisch sind und vom Dramatischen zum Epischen streben.

> ln der digitalen Kultur nun entsteht mit digitalen Spielen ein pro­zedural ermächtigtes audiovisuelles Erzählen, basierend auf der Kombinatorik von Datenbanken und Algorithmen, das systemisch und hyperrealistisch repräsentiert und zu multi- oder nonlinearer Hyperepik befähigt ist, die sich in spielerischer Interaktion realisiert.

Der vergleichende Blick indiziert so zum einen, dass die hyperepischen Narrationen, die im Medium digitaler Spiele entstehen, ebenso nach­haltig von filmischen differieren wie diese einst von denen des Theaters. Zum zweiten aber legt die historische Perspektive nahe, dass die seit über drei Jahrzehnten geführte Debatte um die Kompatibilität von Spielen

>> SPIELWELT- WElTSPIEL

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und Erzählen weitgehend daran krankte, dass sie mit normativen -ahistorischen-Begriffen sowohl vom Spiel wie von der (audiovisuellen) Erzählung operierte. Denn insofern audiovisuelles Geschichtenerzählen jeweils innerhalb der ästhetisch-narrativen Grenzen zu operieren hat, welche ihm die spezifische mediale Basistechnologie zieht, entwickelte bislang noch jedes audiovisuelle Medium einzigartige Strategien zur Narration in Zeit und Raum. Gerade aber die radikal neuen Qualitä­ten digitaler Spiele - Prozeduralität und systemische Repräsentation, hyperepische Multi- oder Nonlinearität basierend auf algorithmischer Kombinatorik von Datenbankelementen sowie interaktive hyperrealis­tische Bildproduktion in Echtzeit-lassen den Streit um den unter ana­logen Verhältnissen durchaus existierenden Widerspruch von Spiel und Narration medientechnisch wie medienästhetisch überholt erscheinen.

Literatur

Aarseth, Espen J.: Cybertext. Perspectives on Ergodie Literature. Baiti­more MD: Johns Hopkins University Press, 1997.

Bogost, lan: Persuasive Games. The Expressive Power of Video games. Cambridge, MA: M IT Press, 2007.

Chase, Linda: Hyperrealism. London: Academy Editions, 1975. Donovan, Tristan: Replay. The History of Video Games. Lewes, East Sussex:

Yellow Ant (Kindle Edition), 2010. Egenfeldt-Nielsen, Sirnon et al: Understanding Video Games. The Es­

sential lntroduction. New York: Routledge (Kindle Edition), 2008. Frasca, Gonzalo: Ludology Meets Narratology. Similitude and Differen­

ces Between (Video)Games and Narrative. ln: ludology.org. www. ludology.org/articles/ludology.htm (o. J., *1999).

Freyermuth, Gundolf S.: Cinema Revisited. Vor und nach dem Kino -Audiovisualität in der Neuzeit. ln:Zukunft Kino.Hrsg. von Daniela Kloock. Marburg: Schüren, 2007, S. 15-40.

Ders.: Serious Game(s) Studies. Schismen und Desiderate. ln: Serious Games, Exergames, Exerlearning. Zur Transmedialisierung und Ga­mification des Wissenstransfers. Hrsg. von Gundolf S. Freyermuthet al. Bielefeld: Transcript, 2013, S. 421-464.

Ders.: Der Weg in die Alterität. Skizze einer historischen Theorie di­gitaler Spiele. ln: New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres- Künste-Diskurse. Hrsg. von Benjamin Beil et al. Bielefeld: Transcript, 2014, 303-355.

Jenkins, Henry: Transmedia Storytelling. Moving Characters From Books to Films to Video Games Can Make Them Strenger and More Compelling. ln: Technology Review. www.technologyreview.com/ news/401760/transmedia-storytelling/ (15. Januar 2003).

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und Erzählen weitgehend daran krankte, dass sie mit normativen -ahistorischen-Begriffen sowohl vom Spiel wie von der (audiovisuellen) Erzählung operierte. Denn insofern audiovisuelles Geschichtenerzählen jeweils innerhalb der ästhetisch-narrativen Grenzen zu operieren hat, welche ihm die spezifische mediale Basistechnologie zieht, entwickelte bislang noch jedes audiovisuelle Medium einzigartige Strategien zur Narration in Zeit und Raum. Gerade aber die radikal neuen Qualitä­ten digitaler Spiele - Prozeduralität und systemische Repräsentation, hyperepische Multi- oder Nonlinearität basierend auf algorithmischer Kombinatorik von Datenbankelementen sowie interaktive hyperrealis­tische Bildproduktion in Echtzeit -lassen den Streit um den unter ana­logen Verhältnissen durchaus existierenden Widerspruch von Spiel und Narration medientechnisch wie medienästhetisch überholt erscheinen.

Literatur

Aarseth, Espen J.: Cybertext. Perspectives on Ergodie Literature. Baiti­more MD: Johns Hopkins University Press, 1997.

Bogost, lan: Persuasive Games. The Expressive Power of Video games. Cambridge, MA: M IT Press, 2007.

Chase, Linda: Hyperrealism. London: Academy Editions, 1975. Donovan, Tristan: Replay. The History of Video Games. Lewes, East Sussex:

Yellow Ant (Kindle Edition), 2010. Egenfeldt-Nielsen, Sirnon et al: Understanding Video Games. The Es­

sential lntroduction. New York: Routledge ( Kindle Edition), 2008. Frasca, Gonzalo: Ludology Meets Narratology. Similitude and Differen­

ces Between (Video)Games and Narrative. ln: ludo/ogy.org. www. ludology.org/articles/ludology.htm (o. J., *1999).

Freyermuth, Gundolf S.: Cinema Revisited. Vor und nach dem Kino­Audiovisualität in der Neuzeit. ln:Zukunft Kino.Hrsg. von Daniela Kloock. Marburg: Schüren, 2007, S. 15-40.

Ders.: Serious Game(s) Studies. Schismen und Desiderate. ln: Serious Games, Exergames, Exerlearning. Zur Transmedialisierung und Ga­mification des Wissenstransfers. Hrsg. von Gundolf S. Freyermuthet al. Bielefeld: Transcript, 2013, S. 421-464.

Ders.: Der Weg in die Alterität. Skizze einer historischen Theorie di­gitaler Spiele. ln: New Game Plus. Perspektiven der Game Studies. Genres- Künste-Diskurse. Hrsg. von Benjamin Beil et al. Bielefeld: Transcript, 2014, 303-355.

Jenkins, Henry: Transmedia Storytelling. Moving Characters From Books to Films to Video Games Can Make Them Stronger and More Compelling. ln: Technology Review. www.technologyreview.com/ news/401760/transmedia-storytelling/ (15. Januar 2003).

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Ders.: Game Design as Narrative Architecture. ln: First Person. New Media as Story, Performance, and Game. Hrsg. von Noah Wardrip-Fruin und Pat Harrigan. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2004, S. 1 19-129.

Juul, Jesper: A Clash Between Game and Narrative. A Thesis on Compu­ter Games and lnteractive Fiction. www.jesperjuul.neUthesis/ (1999).

Mackenzie, Gavin: How lmportant ls Storytelling ln Games? ln: NowGa­mer. www.nowgamer.com/features/8953 12/how_important_is_story­telling_in_games.html (04.08. 20 10).

Mäyrä, Frans: An lntroduction to Game Studies. London: SAG E ( Kindle Edition), 2008.

Ders.: An lntroduction to Game Studies: Games in Culture. London: Sage (Kindle Edition), 2008.

Murray, Janet Horowitz: Harnlet on the Holodeck. The Future of Narra­tive in Cyberspace. New York: Free Press, 1998.

Parkin, Simon: 30 Years Later, One Man ls Still Trying To Fix Video Games. In: kotaku. com, http://kota ku .com/30-yea rs-later-one-ma ns-sti 11-trying-to-fix-video-gam-149037782 1 (27.12.20 1 3).

Schell, Jesse: Die Zukunft des Erzählens. Wie das Medium die Geschichten formt. ln: New Game Plus: Perspektiven der Game Studies. Genres­Künste-Diskurse. Hrsg. von Benjamin Beilet al. Bielefeld: Transcript, 20 14, 357-374.

Endnotes

1 Vgl. Schell 2014:365.{Schell, 20 14 #3267} 2 Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Freyermuth 20 14:330ff. 3 Vgl. Mäyrä2008: loc. 1402. 4 Zitiert nach: Mackenzie20 1 O.Vgl. auch Donovan 2010: loc. 6056. 5 Vgl. die ausführlichere Darstellung in: Freyermuth 20 13:421-464. 6 .. Together, these two works also function as symbols for the two alterna­

tive approaches which collided in the first major debate animating the young game studies community a few years later." (Mäyrä 2008: loc. 180).

7 Vgl. Egenfeldt- Nielsen 2008: loc 481 1. Und insbesondere Jenkins 2004: 119- 129; Jenkins 2003.

8 Vgl. Bogost 2007: loc. 125-Bogost selbst weist darauf hin, dass Janet H. Murray bereits 1996 Prozeduralität als eine zentrale Eigenschaft des digitalen Transmediums erkannte, aus der dessen besondere Befähigung zum Geschichtenerzählen resultiere. Vgl. ibid., loc. 1 19, sowieMurray 1997.

9 Zur historischen und ästhetischen Ausdifferenzierung von Realismus, Fotorealismus und Hyperrealismus vgl. Freyermuth 2007: 15-40.

10 Zum malerischen Hyperrealismus vgl. z.B. Chase 1975.

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